Lesen und gelesen werden: Was macht das mit uns?
Wer nicht liest, wird auch nicht schreiben. Nicht nur zeigt die Lektüre fremder Werke Autor*innen, was (anderen?) alles möglich ist, sie ist in den allermeisten Fällen auch Auslöser für die ersten eigenen Schreibversuche gewesen. Autor*innen lieben Literatur, und meistens lieben sie die Bücher anderer mehr als die eigenen. Das kann zu Problemen führen.
Kia sagt: Bücher inspirieren mich beim eigenen Schreiben. Leider etwas zu sehr, sodass ich schon zahlreiche Schreibblockaden hatte, weil ich glaubte, meinem aktuellen Lieblingsbuch gleich zu kommen.
Da ich auf meinem eigenen Blog (Papierkrieg.Blog) immer wieder davon berichte, welche Autor*innen mich beeinfluss(t)en und wessen Werken ich eine Hommage in Büchern gegeben habe, übernehme ich diesen Artikel und denke für euch darüber nach, inwiefern uns Schreibende das, was wir selber lesen, inspiriert oder verändert.
Wo kommen die Ideen her?
Es gibt unzählige Techniken, um Ideen zu finden, und noch mehr persönliche Geschichten, die beschreiben, wie Autor*innen (scheinbar zufällig) auf Einfälle gekommen sind. Wie aus dem Nichts sind sie manchmal da. Hinterher bleibt oft nur die Rekonstruktion der Assoziationen. Wo eine eigene Idee ihren Ursprung hatte, weiß ich selten genau zu sagen. Und dann gibt es auch noch die Ideen der anderen, die mir so gut gefallen, dass ich ihnen ein Denkmal in meinen Geschichten errichten möchte.
Das gesamte Team bejaht die Frage, ob sie sich von Büchern inspirieren lassen, doch manche nutzen das Gelesene fast als Recherche, während andere nur anerkennen, dass die Leseerfahrung sie verändert. Inspirieren Bücher beim eigenen Schreiben?
Sophie sagt: Ja, denn dadurch bekomme ich kreativen Input über dasselbe Medium, in dem ich auch den Output generiere. Dadurch sehe ich, was in Büchern alles umgesetzt werden kann und das hilft mir beim eigenen Schreiben – sowohl inhaltlich und stilistisch als auch formal.
Magret sagt: Unterbewusst inspirieren mich Bücher beim Schreiben wahrscheinlich um einiges mehr, als ich denke. Kleine Ideen darin werden in meinem Kopf weitergesponnen oder ein Thema darin passt zu meinem Schreibprojekt und ich kann die dazu aufkommenden Fragen für mich nutzen.
Hommage an andere Künstler*innen
Es gibt wohl kaum Autor*innen, die behaupteten, dass sie sich nicht von Gelesenem beeinflussen ließen. Ich halte das sogar für unmöglich. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Schreibenden, die ihre Vorbildern oder Inspirationsquellen in eigenen Texten gewürdigt haben. Mal geschieht das perfide versteckt und mal sehr offen. Umberto Eco benannte den blinden Bibliothekar in „Der Name der Rose“ Jorge und spielte damit (und mit etlichen anderen Details) auf den im Alter erblindeten Autor und Leiter der argentinischen Nationalbibliothek Jorge Luis Borges an. Hermann Burger hat sich wieder und wieder für Titel, Namen, Satzstrukturen usw. bei den Werken anderer bedient. Ein Beispiel wäre seine Vorlesung „Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben“, die sich von Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ableiten lässt.
Vielleicht könnte man auch die Figur Poe aus der Science-Fiction-Serie „Altered Carbon“ hier einreihen, die das Hotel „Raven“ leitet und kaum noch eindeutiger ein Abbild Edgar Allan Poes sein könnte. Doch so weit gehen nicht alle Schreibenden. Cees Nooteboom veröffentlichte Gedichtreihen, die vom japanischen Dichter Matsuo Bashō, römischen Schreibern und anderen Autor*innen beeinflusst wurden. Dafür hat er sich auch ein Stück weit den Schreibstilen seiner Vorbilder angepasst.
Wir arbeiten an der Literatur. Arbeitet die Literatur an uns?
Nicht nur die Einfälle machen Autor*innen besonders, sondern auch ihr Stil: Sprachrhythmus, Wortwahl (auch Lieblingswörter und schlechte Angewohnheiten), Satzlänge und vieles mehr. Der eigene Schreibstil entwickelt sich über Jahre. Einflüsse von innen und außen, Gelerntes und Erlebtes spielen hinein. Wie sehr ändert Gelesenes unseren Schreibstil?
Marlen sagt: Sehr! Egal ob gut oder schlecht allerdings. Ich merke, dass ich mich schriftlich sehr beeinflussen lasse. Manchmal denke ich mir dann beim Lektorat „Hä? Wieso schreibe ich da so komische Sachen, das passt doch gar nicht!“, aber so etwas kommt meistens tatsächlich von der aktuellen Lektüre. Nun, da ich es aber weiß, kann ich gezielt versuchen, mich nur von Dingen beeinflussen zu lassen, die mich weiterbringen. Dasselbe funktioniert übrigens auch in meiner Alltagssprache: Kommt ein Wort in meiner aktuellen Lektüre zu häufig vor, beginne ich, es selbst zu verwenden. Mein neuestes Wort ist zum Beispiel „quasi“, weil sowohl in dem Buch, das ich aktuell gelesen, aber auch in dem, das ich lektoriert habe, dieses Wort besonders häufig vorgekommen ist.
Wiebke sagt: Bisher habe ich da keinen direkten Zusammenhang bemerkt, aber ich wünsche mir dann meistens, dass meine eigenen Texte auch so gut wären. So gesehen, motivieren mich gute Bücher, besser zu werden.
Bei mir selbst ist es übrigens extrem. Nicht nur mein Schreibstil ändert sich, sondern sogar die Stimme in meinem Kopf. Von einem guten Buch übernehme ich eine Weile die Erzählstimme als Denkstimme samt Stil, Rhythmus und Wortwahl. Dass sich das stark auf mein Geschriebenes auswirkt, kann man sich denken. Daher lese ich so gut wie gar nichts, wenn ich an einem Projekt arbeite.
Dean sagt: Ich übernehme sehr häufig Elemente, Sprechweise oder Ausdrücke aus den Büchern, die ich gerade lese. Schlimm ist es, wenn ich mehrere sehr verschiedene Bücher gleichzeitig lese.
Curly sagt: Wenn ich mich aktuell viel mit dem Stil und den Themen des Buches beschäftige und ich mich auf einen Schreibstil einlassen möchte, kann sich mein Schreibstil schon sehr verändern. Allerdings nicht so, als dass ich (und andere) meinen Schreibstil nicht wiedererkennen könnten.
Schreibblockade dank zu guter Bücher?
Die meisten von uns kennen die Momente (oder Stunden oder Tage), in denen wir vor leerem Papier, alternativ einem leeren Word-Dokument, sitzen und nicht schreiben können. Wir wollen, aber wir können nicht. Etwas hält uns ab. Eine Wand oder Leere im Kopf, ein Nebel, eine plötzliche Kraftlosigkeit, schwindender Wille oder Selbstzweifel. Nicht allen geht es so, aber mir mit Sicherheit. Zu häufig verlassen mich Mut und Kraft, zu häufig fühlt sich alles falsch an, was ich produziere, und zu selten bin ich wirklich zufrieden mit dem Geschriebenen. Das liegt bei mir nie an Büchern, die ich lese, nie an äußeren Ursachen, sondern kommt stets von innen. Wenn ich weniger produziere, während ich lese, dann weil ich lieber weiterlesen möchte, anstatt selbst zu schreiben.
Wiebke sagt: Ich hatte bisher keine Schreibblockade.
Sophie sagt: Die häufigste „Schreibblockade“ in Zusammenhang mit dem Lesen sieht bei mir so aus, dass ich oft lieber lese als schreibe. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag z.B. die Wahl habe, ob ich mich jetzt noch einmal an den Laptop setzte, um zu schreiben, oder ob ich mich mit einem guten Buch ins Bett lege, gewinnt (viel zu) oft das Buch.
Abgesehen davon sind meine Schreibblockaden meist ganz anderer Natur. ich habe mich längst damit abgefunden, dass es wesentlich talentiertere Autorinnen als mich gibt und versuche, mich davon nicht abschrecken zu lassen.
Die Sache mit dem Selbstbewusstsein
Autor*innen haben ein Problem. Wir wollen der Welt etwas zeigen, aber glauben oft nicht, dass es gut genug sei. Zweifel ist für die meisten Schreibenden ein Dauerbegleiter (und Garant für ein besseres Endergebnis, weil Überarbeitung auf Überarbeitung folgt, um die Zweifel zum Schweigen zu bringen). Daher braucht es eine enorme Kraft, um mit dem Druck, den man sich selber macht, zurechtzukommen. Es fängt ja schon damit an, dass wir uns fragen, ob wir uns „Autor*in“ nennen dürfen, wenn ich noch kein Buch (über einen Verlag?) veröffentlicht haben, „nur“ weil wir schreiben. Ein weiterer Knackpunkt sind gute, erfolgreiche Bücher, die den Eindruck erwecken können, dass sie so unglaublich viel besser sind als die eigenen, dass man es gar nicht erst weiter versuchen sollte. Auch das kann blockieren. Doch irgendwann kann man verstehen, dass man nicht unbedingt schlechter als andere schreibt, sondern nur anders.
Magret sagt: Früher haben mich die Bücher von Milan Kundera blockiert. Allerdings haben sie mich auch dazu inspiriert, so zu schreiben, wie ich es heute tue. Ich habe sein Buch „Die Leichtigkeit des Seins“ sehr früh aus dem Bücherregal meiner Mutter gefischt und war fasziniert von seiner Art, mit Geschichten umzugehen. Er hebt Sprache auf ein neues Level, spielt mit mehreren Ebenen und schreibt thematisch, nicht plotbasiert. Das wollte ich auch! Jedoch hab ich jahrelang gedacht, ich könne niemals seine Kunst erreichen, also sollte ich es gleich lassen. Ich weiß nicht mehr, was schließlich dazu führte, dass ich erkannte, dass ich meine eigene Kunst machen muss. In der ich durchaus „genauso“ gut werden kann, aber eben nicht vergleichbar. Ich bin mir aber sicher, dass man noch heute in meinen Büchern Milan Kunderas Einfluss spüren kann.
Marlen sagt: Ja, das kam schon vor. Wenn ein Buch zu gut ist, brauche ich nachher immer eine Weile, bis ich mich wieder in der Realität zurechtgefunden habe. In dieser Zeit kann ich zum Beispiel nicht schreiben, aber das beschränkt sich zum Glück auf wenige Tage und nicht auf Wochen oder so. Dass ich mich selbst für zu schlecht befunden habe, das ist so nicht passiert – wenn, dann habe ich mir eher gedacht: „Wow, der/die macht das großartig, das möchte ich auch können“. Und dann übe ich es.
Bücher machen Bücher
Als Mensch wird man bewusst oder unbewusst von allem beeinflusst, was man erlebt, was einem zustößt, was einem angetan wird. Adolf Muschg sagte: „Kunstwerke sind im Grenzfall die einzigen Beweisstücke, wieviel wir aus dem machen können, was uns angetan wird.“ Wir können diese Beeinflussung nicht immer kontrollieren, aber manchmal eben doch. Als Autor*innen, Literat*innen, ist Literatur unsere Welt. Wir leben, lieben und atmen Literatur. Dass Bücher uns verändern, unsere Perspektiven, unsere Ideenwelt, manchmal unseren Stil, unser Wissen und fast immer unser Vokabular, ist unzweifelhaft wahr. Die Frage ist nur, was wir aus dieser Erkenntnis machen.
Ich persönlich ziehe den Schluss, dass man mehr lesen sollte, dass man verschiedenste Bücher von unterschiedlichsten Personen, aus so vielen Zeitaltern und Ländern wie möglich lesen sollte. So baut man sich ein größeres Arsenal an Werkzeugen und Perspektiven auf. Nur so kann man besser werden. Mark Twain soll gesagt haben: „Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten.“
Wir sollten uns also mehr und bessere Werkzeuge anschaffen und uns nicht entmutigen lassen, wenn andere Autor*innen gute Werke veröffentlichen. In manchen Punkten ähneln sich alle Schreibenden. Vielleicht schauen die Verfasser*innen eurer am meisten bewunderten Werke mit dem gleichen schmachtenden Blick auf eure Bücher.
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.
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