Wenn Skynet dichtet – poesie.exe
Wer oder was schreibt denn hier? In „poesie.exe“ liest man zunächst Texte und fragt sich, wer, wenn überhaupt ein Mensch, sie verfasst hat. Man darf raten. Danach wird kurz die Textgenese erklärt. Schließlich kann man nachsehen, ob man richtig gelegen hat.
Der Herausgeber Fabian Navarro hat für „poesie.exe“ Gedichte und Kurztexte von verschiedenen Verfasser*innen zusammengestellt, neben 16 anderen welche von Berit Glanz, Saša Stanišić, Elias Hirschl und Julia Nakotte.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Über den Einzug des Themas KI in meine Lektüre in letzter Zeit nachgedacht.
- Hähnchen-Brokkoli-Mango-Curry mit Basmati Reis.
- Ans Computergehäuse geklopft: Ist da jemand?d
Mein Eindruck zu „poesie.exe“:
Spannende Idee, oder? In „poesie.exe“ geht es um nichts Geringeres als Gedanken über die Entstehung von Literatur, über die Definition „wahrer“ Kunst, um Experimente und die Frage, ob nur Menschen Kunstwerke schaffen können. Ich wiederhole: Spannend, oder?
Stärken des Buchs:
Die größte Stärke von „poesie.exe“ ist die Denkanregung, die das Buch gibt. Man liest Texte vollkommen anders, wenn man sie darauf prüft, ob sie von einem Menschen erschaffen worden sind oder von einer KI – ob sie künstlerisch sind oder künstlich. Plötzlich erwischt man sich dabei, auch in Tweets und anderen Texten auf diese Weise zu lesen, die kleinen Stilbesonderheiten der Verfasser*innen zu beachten und wertzuschätzen, die Wörter, die sie besonders lieben, die sie sich angewöhnt haben oder die sie immer falsch benutzen. Man kann auch nicht anders, als sich zu fragen, was ein Kunstwerk ausmacht. Müssen Kunstwerke, in diesem Fall Gedichte oder andere Kurztexte, einen tieferen Sinn haben, eine Aussage? Müssen sie von vorne bis hinten ohne Hilfsmittel von einer Person erfunden worden sein? Reicht es, wenn eine Person eine Methode erdenkt, eine Software schreibt, eine Idee hat, die dann für die Person den Text generiert?
Da ich mich nie wirklich mit experimenteller Literatur befasst habe und von Software wenig Ahnung habe, konnte ich vieles durch „poesie.exe“ lernen. Ich habe das Buch in die Hand genommen in der Annahme, dass es klar trennt zwischen KI und menschlichen Autor*innen. Aber es finden sich Texte, die von Autor*innen aber mit ungewöhnlichen Mitteln verfasst worden sind, oder welche mit unklarer Autor*innenschaft, weil eine Person Teile fremder Texte oder Suchmaschinenergebnisse kompiliert, nutzt, kommentiert. Es finden sich selbstgebaute Textmaschinen, deren produzierte Texte von der Bodenfeuchtigkeit einer Topfpflanze abhängen. Ich wünschte, ich hätte auch nur genug Ahnung von Technik, dass sich eine Recherche lohnte, um ähnliche Experimente selbst zu starten.
„poesie.exe“ inspiriert also. Das Buch inspiriert zum Nachdenken und zum Experimentieren. Wenn auch mit weniger Technik, ich habe ein paar Pläne entwickelt.
Schwächen des Buchs:
Wäre es nicht witzig, wenn ich als Schwäche angeben würde, dass viele Texte im Buch unsinnig wirken? Wer hübsche Poesie, Blumengedichte und Herzschmerz erwartet, ist hier falsch. Manche Gedichte, auch solche, die mehr oder weniger durch Zufallsverfahren entstanden sind, haben mir gefallen, einige sehr. Die meisten Texte jedoch lese ich aus Interesse an der Idee dahinter und mit der Frage, wie sie entstanden sind, im Hinterkopf. Hier geht es also kaum um lyrischen Lesegenuss.
Mein Fazit zu „poesie.exe“:
Eine spannende Idee und eine Quelle für neue Entdeckungen, Herangehensweisen und Fragen, die man sich vielleicht noch nie gestellt hat. „poesie.exe“ eignet sich für Leser*innen, die sich für das interessieren, was alles hinter Texten stecken kann.
Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.
poesie.exe
Fabian Navarro (Hrsg.)
erschienen bei SATYR Verlag
05. Oktober 2020
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.