Fremdschämen für Fortgeschrittene – 50 Shades of Grey: Geheimes Verlangen [Rezension]

Fremdschämen für Fortgeschrittene – 50 Shades of Grey: Geheimes Verlangen [Rezension]

Ana Steele, Protagonistin in “50 Shades of Grey: Geheimes Verlangen” ist schüchtern, unschuldig und hat gerade die Uni abgeschlossen. Bei einem Interview lernt sie den attraktiven, reichen Christian Grey kennen und fühlt sich sofort zu ihm hingezogen. Die magische Anziehung ist beidseitig, doch je näher sie dem charmanten Millionär kommt, desto mehr lernt sie Christians geheime Vorlieben kennen. Zwischen Verstörung und Verliebtheit muss Ana sich entscheiden – und wählt schlussendlich die Lust.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Meine Hirnzellen zählen und ein Verlustgeschäft beklagen.
  2. Die Autorenbeschreibung lesen, um herauszufinden, welcher Mensch so ein Buch schreibt.
  3. Das Buch zurück ins Regal stellen und mich fragen, ob ich jemals das Bedürfnis verspüren werde, die anderen beiden Teile zu lesen, oder ob ich es gleich verschenken soll.

Mein Eindruck zu 50 Shades of Grey:

Nun. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich habe den Hype um 50 Shades of Grey* noch nie so richtig verstanden – aber andererseits ist so etwas immer schwer zu beurteilen, wenn man das Buch nicht wirklich gelesen hat. Ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen, sie gefragt, was ihnen daran gefallen hat und was nicht, und wurde nicht so richtig schlau daraus. Manche behaupteten, es sei das erotischte und spannendste, das sie jemals gelesen hatten, andere bezeichneten es als größten Schwachsinn überhaupt. Um herauszufinden, was ich wirklich von dem Buch halten sollte, gab es also nur eine Lösung: Ich musste das Buch selbst lesen.

Geld dafür auszugeben schien mir nicht unbedingt angebracht, also habe ich mir alle drei Teile für genauso viele Euro auf einem Flohmarkt organisiert. Um das Buch tatsächlich ganz zu lesen habe ich sage und schreibe sechs Monate gebraucht – und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich immer ein bisschen Pause gebraucht habe, um meinen Hirnzellen nach dem Lesen Zeit zur Regeneration zu geben. Den Großteil habe ich allerdings im Januar geschafft, nachdem ich mich im Urlaub endlich mal richtig auf die Geschichte einlassen konnte.

Tja. Die Geschichte. Was kann ich euch zu dieser Geschichte erzählen? Ich bin mir nicht sicher. Also ja, es existiert eine Handlung – manchmal deutlicher, manchmal (meistens) weniger deutlich. Ja, es gibt Protagonisten – eindeutig sonderbar, manchmal (selten) nachvollziehbar und in wenigen Bereichen realistisch. Und dann gibt es einen Haufen Erotik – oder das, was manche darunter verstehen wollen.

Stärken des Buchs:

Trotzdem war das Buch nicht ganz “für die Fisch” wie man in Österreich sagt. Als (sehr) anspruchslose Unterhaltung war es sogar gar nicht so unerfolgreich: Ich habe knapp sieben Mal gelacht. Gut, vier Mal, weil das Fremdschämen einen Höhepunkt erreicht hatte, der einfach nicht mehr erträglich war, aber auch drei Mal, weil es wirklich witzig war. Dabei denke ich vor allem an den E-Mail-Verkehr zwischen Ana und Christian, sowohl Anas Hinweise zu Christians Stalkertum als auch Christians Anpassungen der Signatur haben tatsächlich für einige laute Lacher gesorgt.

Ebenfalls bei den Stärken anzuführen ist das umfangreiche Vokabular, das die Autorin verwendet, um sexuelle Erregung, Verlangen, Lust, erotische Handlungen oder die Gefühlswelt der Protagonistin zu beschreiben. Als Nachschlagewerk für besonders kitschige oder schundbehaftete Szenen sind vor allem diverse Sexszenen sehr zu empfehlen; ich habe mir selbst die eine oder andere Formulierung rausgeschrieben.

50 Shades of Grey – Geheimes Verlangen, Foto: M. D. Grand
50 Shades of Grey – Geheimes Verlangen, Foto: M. D. Grand

Schwächen des Buchs:

Alles andere. Klingt nicht sehr differenziert und objeketiv, daher ein kurzer Versuch, es aufzuschlüsseln.

Dem Buch mangelt es an…

a) Handlung: Der Inhalt kann stark reduziert werden auf den Satz “Sie lernen sich kennen und vögeln”. Ansonsten passiert eigentlich nicht viel, außer dass mehrmals (!) der Vertrag mit den sexuellen Vereinbarungen über Seiten hinweg minutiös und Paragraph für Paragraph abgedruckt wird.

b) Spannung: Die ersten 200 Seiten passiert, wie gerade angedeutet, im Grunde genommen einfach nichts (nicht Mal Sex). Mein Lieblingssatz, der das Spannungsniveau wunderbar widerspiegelt: “Junge, Junge, war das aufregend!” – und ja, Ana referiert dabei auf die unerlaubte Verwendung von Christians’ Zahnbürste. Mehr ist nicht.

c) glaubwürdigen Charakteren: Auch hier kann man die Protagonisten auf einen Satz reduzieren. Christian Grey ist ein reicher Stalker mit schlechtem Kleidergeschmack und kaum Hintergrundgeschichte – und nein, “Meine Mutter war eine… und Mrs. Robinson hat…” reicht nicht aus – ; Ana ist gleichzeitig prüde und lasziv (manchmal beides gleichzeitig) und, wenn sie nicht gerade per E-Mail kommuniziert, wunderbar stereotyp und hysterisch.

d) sprachlichem Ausdruck: Als Beispiel für vorbildhafte Schundsprache bietet das Buch wie bereits berichtet doch einiges, wobei allerdings die Lektüre von ca. 20 Seiten ausreicht um das gesamte Vokabular zu kennen. Das ganze ist repetitiv, lebt von den immer gleichen Beschreibungen und bewegt sich vom Niveau her meistens irgendwo zwischen (bitte verzeiht meine Ausdrucksweise) “ficken” und “vögeln”. Literarisch anspruchsvoller wird es – tut mir leid – nicht.

Mein Fazit zu 50 Shades of Grey:

Man kann 50 Shades of Grey* lesen. Und zwar unter drei Umständen: Entweder man will endlich auch mal wissen, worüber da immer alle reden. Oder man will die Marktlage recherchieren (ja, Menschen kaufen und lieben das – weiß noch immer nicht, warum). Oder – und dafür gibt es ein halbes Herz in der Bewertung – man will ein amüsantes Level an Fremdschämen erreichen, das nicht nur einem selbst, sondern auch allen, die unfreiwillig den Zitaten lauschen, einen gewissen Unterhaltungswert verspricht.

Von der “winzig kleinen Göttin, die ungeduldig mit den Füßen auf den Boden tippt” über das dagegen kunkurrierende “Unterbewusstsein hinter dem Sofa” bis hin zu “Oh vielleicht braucht er zu den Kabelbindern einen Blaumann” und “Oh Gott, er hat mich bestimmt vergewaltigt, obwohl ich noch alle Klamotten anhabe – aber nein, er ist ja doch heiß, deshalb komme ich gleich unter der Dusche”, habe ich das ganze auf vielleicht doch auch ein wenig masochistische Weise manchmal sogar genossen. Insgesamt kommen wir für diese Strand-Unterhaltung daher auf großartige:

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50 Shades of Grey

El James

Erotik Liebesroman
Softcover, 608 Seiten

erschienen bei Goldmann

30. Juni 2012

ISBN 978-3-442478958
12,99 € bei Amazon*

 

One Reply to “Fremdschämen für Fortgeschrittene – 50 Shades of Grey: Geheimes Verlangen [Rezension]”

  1. Das Buch zieht seine Spannung als Liebesroman nicht aus dem äußeren Konflikt, einem Antagonisten, der die Hauptfigur bedroht, sondern folgerichtig aus dem inneren Konflikt der beiden Liebespartner. Die äußeren Situationen dienen dazu, die inneren Konfliktlagen zu offenbaren und das tun sie, wenn Christian beispielsweise ein First-Class-Upgrade organisiert oder unerwartet bei den Eltern von Anastasia erscheint.
    Mich hat die Darstellung der psychologischen Zusammenhänge, das Austarieren der Beziehung, viel mehr interessiert als die Sexszenen. Und in dieser Hinsicht finde ich den Roman äußerst gelungen. Mir fällt auf, dass dies bisher niemand herausgestellt hat. Dass die Autorin, was die Figurenkonstellation betrifft, ein paar Klischees bedient, halte ich für akzeptabel, wenn man das Genre bedenkt. Und es ist doch immer noch so: Reichtum, als dem Normalbürger fremde Lebenswelt fasziniert genauso wie die Grenzüberschreitung in Bezug auf Sexualpraktiken.
    Ich schreibe selbst Romane und finde die Innere Handlung wirklich gut entwickelt. Die Psyche der Figur in eine Göttin und ein Unterbewusstsein aufzuteilen und dadurch dialogisch darzustellen, halte ich auch für einen gelungenen Kunstgriff.

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