Auf der Suche nach dem verlorenen Traum – Der Wirbel
Die Uhr von Julius Corentin Acquefacques geht vor. Daher kommt er zu früh zu einem Termin in der Traumfabrik und ein Wettrennen im Kreis und durch mehrere Realitätsebenen beginnt.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Workout.
- SuB sortieren.
- Reprodukt-Shop durchforsten.
Ein paar Worte vorweg:
Von Marc-Antoine Mathieu habe ich zum ersten Mal in einer Literaturvorlesung zum Thema Labyrinthe gehört und liebe seine Bücher seitdem. Der Protagonist ist fast immer J.C. Acquefacques und die Welt, in der er lebt, ist über alle Maßen skurril und kafkaesk. Kein Wunder also, dass der Name „Acquefacques“ (gesprochen „Akfak“) die französische lautmalerische Variante von „Kafka“ rückwärts ist. Damit ist das Programm klar, denke ich. Diese Rezension entstand nach einem Reread des Buches.
Mein Eindruck zu „Der Wirbel“:
„Der Wirbel“ ist eine skurrile Geschichte und macht vor keiner abgedrehten Idee Halt. Wo Taxi-Fahrräder auf Seilen, die mitunter durch Wohnzimmer führen, den Protagonisten zur Traumfabrik (wo man den Traum als Lebensraum erforscht) bringt, wundert es auch nicht, wenn Figuren aus den Panels klettern und ihre eigene Geschichte von oben betrachten. Man stelle sich Kafka als französischen Zeichner vor und man bekommt eine Ahnung von Mathieus Werk.
Stärken des Buchs:
Details! In „Der Wirbel“ zeigt Mathieu, dass er nicht nur im Namen des Protagonisten Geheimnisse versteckt, sondern in fast jedem einzelnen Bild. Ein Beispiel: J.C. Acquefacques geht an einer Reihe von beschrifteten Regalen vorbei und alle haben codierte Bedeutungen wie (mal wieder) „K16K1“, wobei die Zahlen die Buchstaben des Alphabets nummerieren: K, 1 (= A), 6 (= F), K, 1 (= A), also „Kafka“.
Ohne zu viel zu verraten, kann ich nur sagen, dass „Der Wirbel“ alle Möglichkeiten einer Graphic Novel ausschöpft und über alle üblichen Grenzen hinausgeht. Mathieu nutzt nicht nur Zeichnungen und Wörter, um die Geschichte zu erzählen, sondern auch Fotos, Bilder, die man als Einblicke in seine Werkstatt verstehen kann, und das Papier, auf dem die Geschichte gedruckt ist, selbst.
Ein weiterer Pluspunkt ist der Humor, der allein aus den abgedrehten Ideen entsteht. Alles ist möglich und nichts ist normal. Überspitzt wird beispielsweise immer wieder die Beengheit des Stadtlebens gezeigt, wenn Menschen Wandschränke anmieten, um darin stehend in ein aufrechtes Bett geschnallt zu schlafen, oder einen schmalen Häusersims als Gehsteig benutzen.
Schwächen des Buchs:
Marc-Antoine Mathieu erzählt meist sehr knapp und konzentriert sich darauf, die Möglichkeiten seiner Kunst mit ausgeklügelten Techniken auszutesten, anstatt emotionale, mitreißende und eben auch längere Geschichten zu erzählen. Wer den Protagonisten als Menschen kennenlernen möchte, hat Pech gehabt. Wir haben hier eine kurze Geschichte, in die ein Haufen Allegorien und Details verbaut wurden, um letztendlich zu zeigen, was mit dem Medium Graphic Novel alles angestellt werden kann. Das ist faszinierend und kann ermüdend sein (weshalb die Bücher wohl meist so kurz sind). Wir haben mit „Der Wirbel“ keine Geschichte fürs Herz vorliegen, sondern eine beinahe reine Verstandesgeschichte.
Graphic Novels bestehen aus zwei Grundelementen: Text und Bild. Bildgewaltige Storys erzählt Mathieu nicht, auch nicht in „Der Wirbel“. Die schwarz-weiße Optik ist Standard in diesem Genre, aber selbst Graustufen sucht man hier vergebens. An diese harten Kanten und zwangsläufig düstere Optik muss man sich erst gewöhnen. Was die Zeichnungen angeht, arbeitet Mathieu sehr straight, ohne Ausbrüche (wie z.B. einzelne Farbseiten, Wechsel im Zeichenstil o.ä.), außer in der Anordnung der Panels (was er wiederum genial macht) und eben dem Mix mit nicht gezeichneten Elementen.
Mein Fazit:
Ich bin ein Fan von Mathieu, versteckten Details, kafkaesken Geschichten und abgedrehten Experimenten. Entsprechend gut finde ich „Der Wirbel“. Wer Kafka mag und Graphic Novels wenigstens eine Chance gibt, wird den Kauf nicht bereuen.
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Der Wirbel
Marc-Antoine Mathieu
Graphic Novelerschienen bei reprodukt
1994
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.