Ein Kind im KZ – weiter leben
„weiter leben“ ist die Autobiografie der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger, die besonders ihre Kindheit und Jugend beschreibt, während derer Klüger die zunehmende Unterdrückung der Jüdinnen und Juden zur Nazizeit erlebte und schließlich mit 11 Jahren ins erste von insgesamt drei Konzentrationslagern deportiert wurde.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Stapel ungelesener (und bald zu lesender) Bücher umsortiert.
- Flugtickets nach Mallorca gebucht. (Das ist eine Lüge.)
- Wohnung durch Lüftung vom Muff der vergangenen Tage befreit.
Ein langes Hadern kurzgefasst:
Anfangs wollte ich nicht über „weiter leben“ schreiben. Wie soll ich die Jugenderinnerungen einer Holocaustüberlebenden einteilen in Stärken und Schwächen? Aber etwas totzuschweigen, weil man nicht weiß, wie man darüber reden soll, ist niemals eine Lösung, ganz besonders nicht wenn es um den Holocaust geht.
Mein Eindruck zu „weiter leben“:
„weiter leben“ bildet im Bereich der Holocaust-Literatur eine Ausnahme. Ruth Klüger erzählt und schreibt anders, als man es erwartet. Hier gibt es wenig Sentimentalitäten und viel Lebenserfahrung, weit über die Erlebnisse im Holocaust hinaus.
Stärken des Buchs:
Was mir zuallererst als Stärke von „weiter leben“ einfällt, ist die Stärke der Autorin Ruth Klüger selbst. Nicht nur beweist sie in ihren Erlebnissen immer wieder einen unzerbrechlichen Lebenswillen, sondern unterstreicht ihre beharrliche Kraft auch durch einen resoluten und oft bissigen Ton. Als ich mit einer Verwandten, die das Buch ebenfalls gelesen hat, darüber sprach, fasste sie es zusammen mit den Worten: „Die [Autorin] lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen“. Das finde ich passend, auch weil die etwas flapsige Beschreibung ein gutes Bild abgibt für die Jahre des Hungers, in denen Ruth Klüger überlebt hat, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Kinder hatten kaum eine Überlebenschance in Auschwitz.
Die Perspektive nicht nur eines Kindes, sondern auch einer Frau ist rar, wenn es um Holocaust-Erinnerungen geht. Klüger selbst geht mehrmals darauf ein, dass Auschwitz als Männersache gelte und Kriege (inklusive Kriegserinnerungen) ohnehin. Ihr Leben lang traf sie daher auf Menschen, Männer, die ihr die Erinnerungen absprachen, sie nicht zuließen, sie nicht gelten ließen. Das dürfte neben der Überlebenschance von Frauen und Kindern in Auschwitz und anderen Konzentrations- oder Vernichtungslagern ein Grund sein, warum es uns an der Perspektive weiblicher Überlebender mangelt.
Durch die oft pragmatischen Gedanken Ruth Klügers in „weiter leben“ über den Holocaust findet man als Leser*in einen besseren Zugang zum Thema als in vielen anderen Werken. Sie betont das aus ihrer Sicht Grundfalsche an der Ansicht, dass der Holocaust unvergleichbar sei und gar nicht mit anderen Dingen verglichen werden dürfte. Sie argumentiert, es habe zwar nie zuvor oder danach Abscheulichkeiten in dieser Konzentration gegeben, aber Teile des Verbrechens seien vorher wie nachher woanders und an anderen verübt worden. Ohne Vergleiche kann man nicht verstehen. Darauf beharrt Ruth Klüger, und das ist mindestens ein interessanter Punkt, hilft sogar beim Verständnis. Auf gar keinen Fall sollte man hier herauslesen, dass Holocaustvergleiche als rhetorisches Mittel legitim einsetzbar sind oder sein sollten. Aber ein Leid hilft dabei, ein anderes Leid zu verstehen, weil man Vergleiche anstellen kann. Das ist der Punkt. Isoliert man den Holocaust als absolut unvergleichbar, wird das Geschehene von der Erfahrungsebene entrückt und wird abstrakt in den Köpfen der Menschen.
Härte und Bissigkeit in „weiter leben“ sind Teil einer großen Offenheit und Ehrlichkeit, mit der Ruth Klüger ihre Erinnerungen durchforstet, sich selbst preisgibt und über ihre Familie und Freund*innen schreibt. Dieses Offenlegen des Intimsten, inklusive der Vorgänge, die beim Verfassen des Buches stattfanden, spürt man gelegentlich als unangenehm, aber auch wohltuend und sympathisch. Gleichzeitig spart Klüger unnötige Details aus, um keinem Voyeurismus zu dienen, und reflektiert die Erwähnung, Nicht-Erwähnung oder Verfälschung von Details. Und dann gibt es Stellen, in denen sie von ihren besten Freundinnen, die sie seit Jahrzehnten kennt, mit enormer Herzlichkeit und Zuneigung erzählt, die ebenfalls Teil des Programms der Offenheit sind. So erscheint Ruth Klüger als ganzer Mensch und nicht nur in einer aufgezwungenen Rolle als Überlebende des Holocaust. Sie war ein Mensch im KZ und ein Mensch, als sie „weiter leben“ geschrieben hat. Nicht einfach Opfer und Überlebende. Manchmal vergisst man den Unterschied, wenn man über die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und die Dimension dieses Verbrechens nachdenkt. Jede*r einzelne*r ein Mensch.
Schwächen des Buchs:
Leider habe ich von der Existenz von „weiter leben“ erst kurz nach dem Tod Ruth Klügers im Oktober 2020 erfahren. Macht es einen Unterschied, ob die Autorin noch lebendig ist, wenn man ihr Buch liest? Praktisch nicht, aber emotional schon. Diese Schwäche liegt also nicht im Buch begründet, sondern in meinem Unwissen.
Generell tue ich mich mit Schwächen in „weiter leben“ schwer. Es ist kein Roman. Daher wirkt der Aufbau manchmal schwierig, vermutlich weil das Leben schwierig ist. Wäre „weiter leben“ ein Roman, so hätte er geendet, nachdem Ruth Klüger die Flucht gelang. So geht das Buch weiter. Das ist gut so. Ihr Leben ging weiter. Das ist ebenfalls keine Schwäche, sondern eine Notwendigkeit, und hätte sich die Autorin den Erwartungen unterworfen, wäre sie eine andere Autorin gewesen. Dennoch bestehen diese Roman-Erwartungen in den Leser*innen, wenn auch nur unbewusst, und das könnte beim Lesen irritieren.
Ich kann es nicht auf den Punkt bringen, was mich am Stil durcheinanderbringt, aber ich bin beim Lesen mehrmals gestolpert. Müsste ich eine Vermutung anstellen, würde ich auf eine Kombination ihres Erwachsenenlebens in den USA, also einer gewissen Entfremdung von der deutschen Sprache im Alltag, und einen in der Kindheit in den 1930er Jahren in Österreich gepflegten und daher für mich ungewohnten Sprachduktus tippen. Das ist keine große Schwäche, aber irgendwas muss ja hierhin.
Mein Fazit zu „weiter leben“:
„weiter leben“ von Ruth Klüger halte ich für ein wichtiges Buch, das man durchaus in der Schule besprechen sollte, würde man den Schüler*innen dadurch nicht das Buch verleiden (wie es so oft mit guten Büchern passiert). Das Klischee der starken Frau spare ich mir, obwohl es hier passend wäre – „Sprache liefert ihre Klischees gratis, die abgedroschenen Phrasen und verbrauchten Wörter fallen einem zu wie Vogeldreck auf den Scheibenwischer“, schreibt Klüger –, und sage stattdessen, dass Ruth Klügers Kraft, ihre Intelligenz und ihre Gedankenwelt mich faszinieren, weil sie ein Mensch von großer Klarheit und noch größerem Lebenswillen gewesen ist.
Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.
weiter leben: Eine Jugend
Ruth Klüger
erschienen bei dtv
1992
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.