960 Seiten emotionale Achterbahn – Ein wenig Leben [Rezension]

960 Seiten emotionale Achterbahn – Ein wenig Leben [Rezension]

Ein wenig Leben wollte ich eigentlich nicht lesen. Zu viel Hype. Zu dick. Außerdem: Ein Entwicklungsroman über vier Freunde in New York, in dem es um deren Beziehung zueinander geht, hat mich thematisch wenig angesprochen. Und dann habe ich es doch gekauft, aus einem Impuls heraus, weil ich so viel Positives darüber gehört hatte. „Berührend“, „herzzerreißend“, „Jahreshighlight“, „absoluter Must-Read“, wurde es genannt. Also habe ich es mitgenommen, dieses wunderbare Buch mit dem poetischen Originaltitel A Little Life.

Und dann stand es in meinem Regal, so herumgedreht, dass ich jeden Tag einen Blick auf das Cover hatte, den „Orgasmic Man“, das ewig verzerrte Gesicht, ob vor Schmerz oder Ekstase wusste ich nicht und weiß es auch jetzt nicht. Überhaupt weiß ich nicht, was ich jetzt mit mir anfangen soll, jetzt, nach dieser Lektüre. Was ich weiß, ist das: Ein wenig Leben hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen und nicht wieder losgelassen, auch jetzt nicht, wo ich es längst wieder zugeschlagen habe. Und, dass es um viel mehr geht, als bloß um Freundschaft: Es geht um ein ganzes Leben.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Die Danksagung überflogen und beim letzten Absatz über Jared Hohlt hängengeblieben
  2. Die Widmung noch einmal gelesen: „To Jared Hohlt in friendship; with love“
  3. Hanya Yanagihara gegoogelt

Mein Eindruck zu Ein wenig Leben:

Der erste Eindruck ist immer haptisch. Ganz besonders bei Ein wenig Leben*, also eigentlich bei der englischen Version A Little Life, denn ich habe mich dazu entschieden, es im Original zu lesen, damit bei der Übersetzung nichts verlorengeht. „Ganz schön viele Seiten“, dachte ich. 816, um genau zu sein – 960, in der deutschen Fassung. Sieben Abschnitte, der erste gleich betitelt wie der letzte. Dünnes Papier, empfindliches Cover, ein Gebrauchsgegenstand, der mich die nächsten „Sekunden, Minuten, Stunden, Tage“ begleiten würde. Stärker als ich dachte, und vor allem schneller, nämlich von der ersten Seite an, zogen mich die vier Freunde JB, Jude, Malcolm, Willem, in ihren Bann.

Im erstenAbschnitt springen wir durch die Perspektiven von JB, Malcolm und Willem. Wissen wir über Jude zuerst nur, dass wir nichts über ihn wissen, erleben wir den ganzen zweiten Abschnitt aus seiner Sicht. Und dann ist auch klar, warum wir zuerst die anderen drei so gut kennenlernen mussten. Denn sobald wir einen kleinen Einblick in Judes Abgründe bekommen, wollen wir nichts anderes mehr sehen, können uns auf nichts anderes mehr konzentrieren. Damit ändert sich alles. Der gesamte Fokus wird verschoben: haben wir zuerst alle vier Freunde als Zentrum der Geschichte angenommen, wird jetzt klar, dass sich in Wahrheit alles, nein, alleum Jude drehen, wie blasse Monde um ihre Planeten, von dem sie angezogen werden, ohne ihn je ganz erreichen zu können … oder doch?

Stärken des Buchs:

Ganz der typische Entwicklungsroman lebt Ein wenig Leben von seinen Charakteren und deren Kampf mit sich selbst. Sie alle haben Tiefe in jede Richtung. Abgründe, ja, aber auch Höhenflüge. Die klassischen Stationen des Entwicklungsromans werden auf die unterschiedlichen Figuren verteilt, wobei Jude die größte Aufmerksamkeit zuteilwird. Was allerdings nicht heißen soll, dass nicht auch andere Figuren ähnlich tiefgreifende Entwicklungsprozesse durchlaufen. Das gilt für die vier anfänglichen Hauptfiguren ebenso wie für die anderen, die im Laufe der Geschichte als Freunde, Wegbegleiter, Mentoren hinzukommen.

Nach und nach lernen wir ihre Besonderheiten kennen, ihre Vorlieben, ihre Spinnereien, ihre Talente, sexuelle Orientierung und schließlich auch ihre Herkunft. Dann, irgendwann, ihr Aussehen. Sie alle haben unterschiedliche Persönlichkeiten von exzentrisch bis verschlossen, aber das Herz am rechten Fleck. Die größte Freude bereitet es, all diese Eigenheiten nach und nach zu entdecken, daher will ich jetzt auch gar nicht mehr über sie verraten. Man will allesüber sie wissen – auch, wenn wir noch so frustriert über ihre Sturheit, ihr Pech oder ihre Selbstzweifel sind.

Die Charaktere an sich sind schon interessant gestaltet, aber erst Yanagiharas meisterhafte Erzählweise verleiht der ganzen Geschichte diesen einzigartigen Sog. Stückchen für Stückchen gibt sie uns gerade so viel Information wie nötig, dass wir immer mehr wissen wollen und Seite um Seite blättern, bis wir plötzlich ganz am Ende dieses Wälzers – und unserer emotionalen Strapazierfähigkeit – angelangt sind.

Ausgeklügelte Kapitelreihung

Durch das ausgeklügelte Verhältnis von Rückblenden, Beschreibungen der Haupthandlung und Vorausdeutungen erzeugt die Autorin eine einzigartige Spannung, die sie bis zum Schluss halten kann. Mit atemberaubendem Tempo schickt sie uns durch Abgründe der menschlichen Psyche bis wir uns fragen, wie viel ein Mensch, wie viel eine Freundschaft eigentlich aushalten kann. Immer wieder legt das Leben den Protagonisten alle möglichen Hürden in den Weg. Und nach jedem überwundenen Schicksalsschlag freuen wir uns aufs Neue, atmen auf, ganz kurz, bevor uns klar wird: Das war’s noch nicht! Da gibt’s noch 600 Seiten, 400 Seiten, 200 Seiten, da wird, da muss noch etwas passieren. Nie habe ich beim Lesen eine solche emotionale Achterbahn erlebt, die über so viele Seiten hinweg anhält.

Ein wenig Leben / A little Life, Foto: S. M. Gruber
Ein wenig Leben / A little Life, Foto: S. M. Gruber

Themenvielfalt

Die Themenvielfalt, die Hanya Yanagihara dabei aufgreift, ist so breit gefächert, dass man eigentlich eine Triggerwarnung für so ziemlich alles aussprechen müsste, von allen Arten des Missbrauchs über Selbstverletzung bis hin zu toxischen Beziehungen und was man sich sonst noch so vorstellen kann. Das alles verarbeitet sie in diesem Buch, ohne, dass es übertrieben wirkt.

Gut gelungen ist außerdem das Setting, besonders in zeitlicher Hinsicht. Wir befinden uns größtenteils im New York des 21. Jahrhunderts, aber wann genau? Die erzählte Zeit in Ein wenig Leben erstreckt sich auf insgesamt über 50 Jahre, wobei nie ganz klar ist, in welchem Jahrzehnt wir uns gerade befinden. Ich nehme an, dass JB, Jude, Malcom und Willem möglicherweise in den Siebzigern bzw. Achtzigern geboren sind, aber so ganz sicher bin ich mir da nicht. Es ist auch nicht wichtig. Und gerade deswegen ist es so bewundernswert, wie die Autorin es tatsächlich geschafft hat, die Handlung so weit aus dem zeitlichen Kontext zu heben, dass wir uns ganz auf das Menschliche konzentrieren können. Die zu überwindenden Probleme haben immer Bestand, sind immer gültig – zeitlos eben.

Schwächen des Buchs:

Insgesamt hätte ich mir noch mehr Passagen aus der Sicht von JB und Malcolm gewünscht. Hier hätte die Autorin noch Einiges aus ihren hervorragend konstruierten Figuren herausholen können. Ich kann aber auch nachvollziehen, warum sie zugunsten der Charakterentwicklung von Jude und Willem darauf verzichtet hat.

Was mich ohnehin viel mehr nervt, ist das (relative) Privileg der Protagonisten. Alle vier sind sie auf ihre Art schöne Männer, allen voran Jude, der sich selbst für hässlich hält. Außerdem sind sie alle überdurchschnittlich begabt, gebildet und erfolgreich. Und Männer. Habe ich erwähnt, dass alle wichtigen Personen in Ein wenig Leben Männer sind? Ja sicher, sie sind sehr divers, sogar mit körperlicher Einschränkung, bravo. Ich sehe auch ein, dass der berufliche Erfolg und die optische Schönheit notwendig sind, um den Fokus auf die anderen Problematiken zu legen – damit zumindest irgendetwas in deren Leben auch gut sein darf.

Aber warum zur Hölle müssen die alle Männer sein? Alle Figuren mit tragender Rolle sind männlich, die Hauptfiguren sowieso, aber auch die Mentoren, die Antagonisten, die Ärzte, Agenten, Galeristen, Geschäftspartner, alle, alle, alle. Eine – eine! – einzige für die Charakterentwicklung wichtige Frau gibt es – in Rückblenden. Und obwohl sie die erste echte Mentorin bzw. „Lehrmeisterin“ im Sinne des klassischen Entwicklungsromans ist, hat sie nicht besonders viel Platz in dieser Geschichte bekommen. Warum auch mehr als etwa 20 bis 30 Seiten für eine starke Frauenfigur ver(sch)wenden, wenn man insgesamt nur knappe 900 Seiten zur Verfügung hat? Und nein, dass die Autorin selbst eine Frau ist, macht es nicht besser. Im Gegenteil.

Mein Fazit zu Ein wenig Leben:

Ein wenig Leben* von Hanya Yanagihara ist ein Entwicklungsroman, der auf paradox zeitlose Art und Weise den aktuellen Zeitgeist einfängt. Wie weit kann eine kaputte Seele wieder repariert werden? Was bleibt, wenn alles getan, alle äußeren Stressoren beseitigt wurden und du selbst das einzige bist, das dich vom Glücklichsein abhält?

Was bleibt, ist ein meisterhaft erzähltes Abbild eines Lebens, an dem nichts „little“ ist, eines Lebens, das nur so strotzt vor Lebendigkeit – trotz allem.

Du willst mehr Rezensionen von Sophie lesen? Hier findest du alles, was S. M. Gruber geschrieben hat.

 



Ein wenig Leben

Hanya Yanagihara

Entwicklungsroman
Softcover, 960 Seiten

erschienen bei Piper

04. September 2018

ISBN 978-3-596296590

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