Starke Freundschaft, viel Zauber und großer Mut – Weiße Nächte [Rezension]
Weiße Nächte: Nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges bleibt ein Zug, der Gefangene nach Sibirien bringen soll, wegen eines Unfalls kurz nach Petersburg liegen. Unter ihnen ist Peter, ein Zirkuskünstler, und Igor, der aller Vernunft zum Trotz ebenfalls in den Zug gesprungen ist, um bei seinem verurteilten Freund bleiben zu können. Der französische Diplomat Paléologue erwirkt, dass beide bei ihm die Nacht verbringen können. Beim nächtlichen Essen entsteht schnell ein reges Gespräch. Und natürlich gibt es auch einen Plan!
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Aus der Wanne gestiegen
- Das dünne, uralte Buch vorsichtig zurück ins Regal geschoben
- Maurice Paléologue gegoogelt, denn ihn gab es wirklich
Mein Eindruck zu Weiße Nächte:
„Weiße Nächte* klang für mich im ersten Moment langweilig, dann fiel mir auf, wie irritierend der Titel in Wahrheit ist. Nächste sind doch dunkel, düster, maximal noch sternenklar, aber doch niemals weiß. Beim Lesen wird dann schnell klar, warum das Buch so heißt. Es sind die Nächte der Sonnenwende in Russland, da die Sonne spät untergeht und früh aufgeht. „[…] und auf Menschen, die empfindliche Nerven haben, wirken sie aufregend oder beunruhigend.“ Genau in diesen Nächten spielt sich die dünne Novelle ab.
Stärken des Buchs:
Trotz der großen Tragik des Buches wirkt es leicht und bezirzt durch schöne Anekdoten, aber auch durch zauberhafte Momentaufnahmen. Etwa Peters Auftritt in der abgebrannten Ruine, in der die Gefangenen untergebracht werden. Zwischen zwei verbrannten Fenstern spannt er sich ein Seil und erheitert damit allen Gefangenen das Gemüt. Dann gibt es auch noch den herrlichen Witz, dass Igor seiner Frau nicht gesagt hat, dass er sie verlässt, um seinem besten Freund in ein sibirisches Arbeitslager zu folgen. Ständig springt er auf und sagt: „Oh, oh, das wird doch nicht meine Frau sein?“ Irgendwann bemerkt der französische Diplomat mal mit völlig ernster Miene, es sei rührend, was für ein treuer Gatte er sei, obwohl er die Wahrheit kennt.
Am liebsten ist mir jedoch die Schilderung der Freundschaft zwischen Peter und Igor. Diese rührt mich sehr. Angenehm finde ich, dass Igor seinen Freund zwar ständig „Täubchen“ nennt und sein Leben ohne Weiteres aufgibt, um bei ihm sein zu können, und später erfährt man, dass auch Peter seine Opfer für die Freundschaft gegeben hat, aber nie, nie, nie der Gedanke an Homosexualität bei mir aufkam. Es ist wunderschön, Zeuge davon zu werden, wie nah sich zwei Männer freundschaftlich sein können, ohne männliches, explizit heterosexuelles Gehabe dazwischenschieben zu müssen.
Die Novelle lebt von der zarten Menschlichkeit, die sich so stark von der Grausamkeit – ebenfalls durch den Menschen hervorgerufen – abhebt.
Schwächen des Buchs:
Wie es mit alten Büchern eben so ist, ist die Sprache stellenweise gewöhnungsbedürftig für uns modernen Leser. Dazu kommt ein kultureller Unterschied, obwohl die Autorin keine Russin, sondern Deutsche war. Wer aber nicht zum ersten Mal einen Klassiker liest, wird keine Probleme haben. Beim Lesen kam ich dennoch zügig durch.
„Weiße Nächte“ ist sehr dünn. Meine Ausgabe von 1940 hat 84 Seiten, die aktuelle von 2018 sogar nur 56. Dafür ist sie reichhaltig und schwingt nach. Selbst bei der zweiten Lektüre habe ich nach dem Lesen das Gefühl, ich muss noch einmal von vorne lesen, irgendwas habe ich sicherlich verpasst. Ich weiß nicht, woher das Gefühl kommt, denn es bleiben keine Handlungslöcher zurück. Vielleicht sind es die vielen philosophischen Fragen, die einem bleiben. Zumindest entlässt das Buch einen aufgewühlt, unruhig, hungrig. Ich kann mir vorstellen, dass das viele Leser unzufrieden macht. Mir selbst ist es recht, obwohl ich danach erst einmal eine Pause vor einem neuen Buch brauche.
Mein Fazit zu Weiße Nächte:
Ricarda Huch ist eine fast vergessene Autorin aus Deutschland. Mein Antiquar des Vertrauens schenkte mir das abgewetzte Buch, weil er überzeugt davon war, dass es meinen Geschmack träfe. (Damals sprachen wir vor allem viel über Proust und Kafka.) Und er hatte so recht! Dass „Weiße Nächte* so in Vergessenheit geraten ist, macht es fast noch wertvoller. Lange gab es nur sehr alte Ausgaben davon, doch nun gab es 2018 erst eine neue Auflage vom kleinen Verlag Hofenberg! Ich lege also die Novelle an jedermanns Herz. Gönnt euch ein wenig Zauber!
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Weiße Nächte
Ricarda Huch
erschienen bei Hofenberg
01. Januar 1960
(neue Auflage 29. August 2018)
Magret liest nie, ohne dabei zu schimpfen. Am wenigsten mag sie wiedergekäute Ideen, leere Worthülsen oder Floskeln. Dafür steht sie auf Experimente, selbst wenn sie schiefgehen. Die Figuren sind ihr wichtiger als der Plot. Daher liest sie vor allem Entwicklungsromane, klassische und welche der Gegenwartsliteratur.