Wieder richtig atmen und bluten können – Niemals ohne sie
Die hundsarme Familie Cardinal besteht aus einem selten anwesenden Vater, der ein Zinkvorkommen entdeckt hat, der Mutter, die ebenfalls nicht oft da ist, weil sie nur am kochen ist, und einundzwanzig Kinder, manche schon selbst erwachsen, andere machen noch halbe Babys. Sie sehen sich als die Helden des Dorfes – das immerhin nur wegen der Zinkentdeckung ihres Vaters existiert – und empfinden die Spießigkeit der anderen als Beleidigung. Sie sind wild und sie sind frei, vor allem aber sind sie stolz.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Wie wild alles über die Autorin nachgelesen (was, erst zwei ihrer Bücher wurden ins Deutsche übersetzt?!)
- Die drei Stellen mit den Eselsohren noch einmal gelesen
- Mich gefragt, was zum Teufel eigentlich diese Freiheit ist
Mein Eindruck zu „Niemals ohne sie“:
I’m in love. Das war ich schon mit „Ein Leben mehr“ von derselben Autorin, Jocelyne Saucier, doch „Niemals ohne sie“ ist noch wilder, noch freier, noch erbarmungsloser.
Stärken des Buchs:
Die Autorin versteht etwas von Rätseln, die den Lesenden durch die Seiten ziehen. Das extravagante Motiv, hier ist es die pure Anzahl an Kindern in einer Familie, macht zu Beginn neugierig, doch dann muss natürlich etwas kommen, damit man bleibt. Lange wird nicht ausgesprochen, was eigentlich los ist und plötzlich steht es irgendwo nebenbei und man ist so überwältigt, dass man sich fragt, ob man gerade angelogen wird.
Ich wurde beim Lesen selbst zu Rebellin. Ich wollte das Buch in die Höhe heben und schreien, für mehr Freiheit, für mehr Unerschrockenheit, für mehr rotzfreches Dasein. In dem Buch steckt ganz viel Ronja Räubertochter, gepaart mit Herr der Fliegen. Kinder sind erbarmungslos und das weiß sicher noch jeder aus seiner eigenen Kindheit, weswegen viele alte Gefühle automatisch in einem brodeln. So lebendig kam mir schon lange keine Geschichte mehr vor.
Auch sprachlich begeistert mich Saucier mal wieder. Sie hat eine blumige Rotzlöffelsprache und das ist wunderschön. Der Tiefgang fehlt auch nicht, im Gegenteil, der ist eigentlich die Hauptfigur.
Schwächen des Buchs:
„Niemals ohne sie“ hat in jedem Kapitel einen anderen Erzähler, einer der vielen Kinder kommt jeweils zu Wort, und ich tue mir mit sowas immer sehr schwer. Es ist schön gemacht, weil man so für einige wichtige Erlebnisse verschiedene Perspektiven bekommt, aber häufig wusste ich nicht mehr, wer noch mal dieses oder jenes erzählt hatte. Dazu hatten die Figuren natürlich ihre echten Namen, wurden aber meistens mit ihren verrückten Spitznamen angesprochen, man hatte also nicht nur 21 wichtige Figurennamen, sondern gleich 42. Ich hab irgendwann aufgegeben, mir alle zu merken und hab festgestellt, dass die Geschichte auch keinen Anspruch darauf stellt, dass man das tut. Es ist nur eine Schwierigkeit, dass man es zulässt, die Kontrolle zu verlieren. Die Geschichte ist nicht für den Lesenden geschrieben, sondern für die Figuren selbst. Das ist wahnsinnig spannend, aber verlangt eben auch mehr Aufmerksamkeit, wenn man nicht an die Hand genommen wird.
Wie schon erwähnt sind Kinder grausam und häufig werden tote Katzen erwähnt, sei es erschlagen, blutend, aufgespießt oder ertränkt. Das traf mich jedes Mal sehr, vor allem weil ich ein Katzenmensch bin und ich noch immer um meine eingeschläferte Katze trauere. Ich finde, da wäre eine Inhaltswarnung sinnvoll, obwohl ich auch unsicher bin, denn es gibt auch viele andere brutale Stellen, bei denen ich nicht so reagiert habe.
Mein Fazit zu Niemals ohne sie:
Ich habe schon lange nicht mehr ein so gutes Buch gelesen, das mich sprachlich sowohl inhaltlich so gut anspricht. Es beinhaltet viele komplexe Themen, unter anderen die Frage nach der Freiheit, die Illusion des Schutzes hinter einer Lüge, die Suche nach dem Glück …
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Niemals ohne sie
Jocelyne Saucier
erschienen bei Insel Verlag
18. Mai 2020
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Magret liest nie, ohne dabei zu schimpfen. Am wenigsten mag sie wiedergekäute Ideen, leere Worthülsen oder Floskeln. Dafür steht sie auf Experimente, selbst wenn sie schiefgehen. Die Figuren sind ihr wichtiger als der Plot. Daher liest sie vor allem Entwicklungsromane, klassische und welche der Gegenwartsliteratur.