Erzählte Langsamkeit – Seide
Hervé Joncour bereist als Seidenhändler die ganze Welt. Im Japan des 19. Jahrhunderts verliebt er sich in ein schönes, unbekanntes Mädchen in einem Seidenkleid in der Farbe des Sonnenuntergangs. Eine verbotene Liebe, eine unmögliche Liebe, die ihn trotz allem immer wieder nach Japan zurückkehren lässt und ein Leben lang begleitet.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Mir ein neues Buch rausgesucht.
- Mich aufs Sofa gelegt.
- Weitergelesen.
Mein Eindruck zu „Seide“:
Ich muss sagen, ich hatte irgendwie etwas anderes erwartet. Vielleicht mehr historischen Kontext. Oder mehr Liebesgeschichte. Auf jeden Fall nicht diese langsame Geschichte, die sich wie in Zeitlupe fallende Stoffbahnen anfühlt. Sehr zart, sehr durchsichtig, und irgendwie ein bisschen langweilig. Für so ein Buch muss man auf jeden Fall in der richtigen Stimmung sein. Da es mir beim Lesen auch so gegangen ist, dass ich zuerst die Schwächen und dann die Stärken davon bemerkt habe, drehe ich hier die Reihenfolge ausnahmsweise um:
Schwächen des Buchs:
Das Buch mutet zuerst irgendwie langweilig an. Es geht um nichts, die Kapitel sind sehr kurz (maximal 2 Seiten), die Sprache zwar poetisch, aber nicht unbedingt packend. Die Charaktere werden immer nur kurz gezeigt, die Handlung entwickelt sich in Zeitlupe, und fast hätte ich auf halbem Weg den Nerv verloren. Dann haben sich die langweiligen Sequenzen auch noch wiederholt und siehe da, durch die Wiederholung mit nur ganz leichten Abwandlungen waren sie auf einmal irgendwie schön. Und auch meditativ.
Stärken des Buchs:
Die Stärke des Romans liegt auf jeden Fall in seiner behutsamen Erzählweise. Es ist ein sehr leises Buch, das erst mit der Zeit so richtig seine Wirkung entfaltet. Wie Tee. Zuerst schmeckt es wie Wasser, dann nimmt es langsam Geschmack an und am Ende ist man erstaunt, dass es eigentlich doch einen guten Geschmack hat. Alessandro Baricco schafft Wort für Wort eine Atmosphäre, die uns durch Länder und Jahrhunderte trägt, erzählt uns von einer Liebe, die aber eigentlich eine ganz andere ist, und überrascht schließlich mit einem Ende, das ich so nicht erwartet hätte, aber sehr stimmig ist. Hervés Frau Héléne mit ihrer weichen Stimme ist für mich trotz der wenigen Beschreibungen der schönste Charakter des Romans.
Mein Fazit zu „Seide“:
Wenn man sich erst einmal an die Langsamkeit und die Genauigkeit gewöhnt hat, mit der Baricco seine Buchstaben aufs Papier malt, dann entwickelt sich „Seide“ zu einer kleinen, wehmütigen Kostbarkeit, die zwar weder von der Handlung noch von den Charakteren so richtig lebt, die LeserInnen aber trotzdem irgendwie berührt. Ein Buch, für das man auf jeden Fall in der richtigen Stimmung sein muss, damit es sein volles Potential entfalten kann. 4 von 5 Sternen für diese zarte Geschichte von Liebe und der Suche nach dem Glück.
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Seide
Alessandro Baricco
erschienen bei Piper
01. Januar 2004
Auch wenn sie besonders oft Fantasy liest, wird prinzipiell jedes Buch gelesen, das unvorsichtig genug war, ihr in die Hände zu gelangen. Nur vor Krimis und Thrillern wahrt Marlen respektvollen Sicherheitsabstand, der sich bei begründetem Spannungsverdacht allerdings sehr schnell verringern kann. Wenn sie nicht gerade liest, haut sie wahrscheinlich gerade eifrig in die Tasten um ihre Roman voranzutreiben und ihre Figuren leiden zu lassen.
2 Replies to “Erzählte Langsamkeit – Seide”
Klingt spannend, danke schön für die Einschätzung. Werd es mir mal genauer ansehen.
Sehr gerne! Viel Spaß beim Lesen!
Liebe Grüße
Marlen