Sprachlos – Vater und ich
Während ihre Mutter mit Freundinnen Urlaub macht, besucht Ipek ihren Vater und versucht zu verstehen, warum sie keine richtigen Gespräche mit ihm führen kann, obwohl die beiden in ihrer Kindheit eine sehr enge und liebevolle Beziehung zueinander hatten.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Wohnungsputz.
- Mittagessen.
- Wohnungsputz.
Mein Eindruck zu „Vater und ich“:
„Vater und ich“ von Dilek Güngör stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021, hat es aber nicht auf die Shortlist geschafft. Das Buch hat mich in manchen Bereichen stark an den Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde erinnert, der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Da ich eine ausführliche Rezension von „Streulicht“ hier bereits veröffentlicht habe, stelle ich ein paar Vergleiche an.
Stärken des Buchs:
Ich mag dünne Bücher. Sie schüchtern mich nicht ein. „Vater und ich“ zählt mit etwa 100 Buchseiten eindeutig zu den dünnen Büchern. Ein Aspekt, den ich an derart schlanken Werken, sofern sie gelungen sind, besonders mag, ist die Konzentration auf ein einziges Hauptthema und die Präzision, die benötigt wird, um auf wenigen Seiten viel zu sagen. Dilek Güngör konzentriert sich entsprechend auf die Beziehung von Ipek und ihrem Vater. Um diesen Kern herum ordnet sie weitere Themenbereiche an, die den Hauptbereich untermauern. Es wird von der Familie und von Freundinnen erzählt, vom Studium, der Arbeit und von Diskriminierung. Alles jedoch, um die Vater-Tochter-Beziehung im Zentrum der Erzählung zu beleuchten.
Als Leser*in taucht man ein in die Gedanken der Erzählerin Ipek, die sich um ihre Sprachlosigkeit und die ihres Vaters drehen, um Sprache allgemein, um die Gespräche der beiden mit anderen – denn sowohl Vater als auch Tochter kommunizieren mit anderen ungezwungen – und um Diskriminierung durch Sprache. Das Thema ist interessant, die Umsetzung ruhig und sympathisch. Es werden keine Vorträge gehalten und man wird auch nicht in die unangenehme Rolle gezwungen, eine fremde Familiensituation zu beobachten, als würde jemand tratschen.
„Vater und ich“ erinnerte mich, wie bereits weiter oben erwähnt, an den Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde, in dem es ebenfalls (als Nebenthema) um die Beziehung der Erzählerin zu ihrem Vater geht, hauptsächlich aber um Diskriminierung. Dilek Güngör dreht die Prioritäten um, wenn man so will, und konzentriert sich auf die Familie, lässt Diskriminierungserfahrungen allerdings nicht aus. Beide Bücher ersetzen einander keinesfalls und stehen definitiv für sich, aber Leser*innen, die eines der beiden Bücher mögen, mögen wahrscheinlich auch das jeweils andere. „Vater und ich“ bietet allerdings nur einen Ausschnitt an, eine abgespeckte Darstellung, konzentriert auf das eine Thema und dieses Thema ist feinfühlig und intelligent betrachtet. Es endet in ebendiesem leisen, sympathischen und liebevollen Ton, und mit einem passenden Fazit.
Neben all dem ist der Einblick in den Hintergrund und den Familienalltag einer Familie mit türkischer Herkunftsgeschichte in Deutschland interessant, spannend und für viele Leser*innen vermutlich noch immer neu.
Schwächen des Buchs:
Die Erzählweise Güngörs in „Vater und ich“ würde ich als leise beschreiben. Es geht nicht hoch her, es wird nicht laut, es gibt keine große Handlung und keine emotionalen Ausschläge. Sofern man nicht in der richtigen Stimmung für genau diese sehr ruhige Betrachtung einer Vater-Tochter-Beziehung ist, könnte das Buch etwas langweilig wirken. Diese vermeintliche Schwäche kann man direkt damit abtun, dass Leute, die Buch und Thema langweilig finden, es vermutlich gar nicht erst kaufen werden.
Dennoch hätte ich ein bisschen mehr erwartet, einen tieferen Einblick in die Figuren oder einen intensiveren Eindruck durch die Geschichte. Es gibt allerlei Alltag, der das Leben der Figuren und sie selbst charakterisiert, und das fühlt sich dann vertraut und nah an. Aber es ist eben auch nicht immer interessant, denn so ist Alltag nun mal.
Ich tue mich ein wenig schwer, die Minuspunkte zu finden, aber am Ende läuft es wohl darauf hinaus, dass ich nach dem Lesen nicht das Gefühl hatte, ich würde die Figuren kennen. Da es aber nur um die Figuren und ihre Beziehungen zueinander geht, ist da also etwas falsch. Man spürt die Zuneigung und man spürt noch deutlicher, dass die Figuren einander in- und auswendig kennen, aber als Leser bleibe ich ein wenig außen vor. Das Buch liest sich wie ein Besuch bei Fremden: Man sitzt auf der Terrasse und schaut in die Küche, wo die Familie zusammen hantiert und lacht und schimpft, und man weiß, die gehören alle zusammen, aber man weiß trotzdem nicht, wer diese Leute eigentlich sind. Vielleicht ist genau das gewollt.
Vielleicht habe ich „Vater und ich“ auch in einer Zeit gelesen, in der ich selbst zu viel Stress habe und zu wenig Zeit, um alle Details des Buches genießen oder auch nur bemerken zu können, aber zum jetzigen Zeitpunkt fehlt mir etwas. Nicht viel, nichts Großes, aber etwas.
Mein Fazit zu „Vater und ich“:
Auf wenigen Seiten bietet Dilek Güngör in „Vater und ich“ Gedanken über Kommunikation und Familie, gibt Einblicke in den Familienalltag einer Familie mit Migrationshintergrund in Deutschland, und bleibt bei alldem in einem angenehmen Erzählton. Ohne Frage handelt es sich um ein gutes Buch, aber mir selbst fehlt die Begeisterung dafür.
Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.
Vater und ich
Dilek Güngör
erschienen beim Verbrecher-Verlag
20. Juli 2021
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.