Im Schatten des Chemiewerks – Streulicht

Im Schatten des Chemiewerks – Streulicht

Eine Frau kehrt in ihren Heimatort zurück und erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend, die entscheidend durch ihre türkische Abstammung mütterlicherseits und das Leben in einer Arbeiterfamilie geprägt wurde, erinnert sich an die Chemiewerke in der Nähe, an subtile Diskrimierung und an die Suche nach einer eigenen Identität.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Den Hund ausgeführt.
  2. Mich erinnert, dass ich keinen Hund habe.
  3. Flucht mit Hund.

Mein Eindruck zu „Streulicht“:

„Streulicht“ von Deniz Ohde ist ein ruhiger Roman. Alles geschieht versteckt, unter der Hand, hinter dem Rücken, hinter verschlossenen Türen, wenn andere nicht hinhören, wo andere nicht hinsehen.

Stärken des Buchs:

Direkt zu Beginn hat „Streulicht“ mich durch den tristen, langsamen Erzählton fasziniert. In langen Sätzen, die das Leben im „Ort“, der niemals konkret benannt wird, vermutlich weil er stellvertretend für viele Orte steht, widerspiegeln, erzählt die Ich-Erzählerin ihr Leben nach. Auch sie bleibt weitestgehend namenlos, „Frau A“, mit einem geheimen Namen, der auf die Herkunft ihrer Mutter hindeutet, und einem öffentlichen Namen, beide werden nicht genannt: Deniz und Denise, so habe ich es interpretiert, wie der Name der Autorin. Deniz Ohde verwebt Geschichte und Erzählstil gekonnt, weil sich im Ort nie etwas zu ändern scheint, die Töchter tun, was die Mütter getan haben, die Söhne, was die Väter getan haben, und so werden immer wieder Details, Aussagen, Beschreibungen wiederaufgenommen, variiert, in neue Zusammenhänge gestellt. Ein intelligentes Spiel mit der Sprache, während der Ich-Erzählerin selbst die Sprache zu fehlen scheint – mal aus Angst und mal weil Lehrer ihr eine eigene Sprache oder sogar die Intelligenz dafür aufgrund ihres Aussehens nicht zutrauen.

Üblicherweise kann man bei Büchern Punkt für Punkt Stärken und Schwächen abarbeiten. Deniz Ohde macht diese Praxis schwierig. Wie man im ersten Abschnitt bemerkt, sind alle Stärken und alle Themen miteinander verbunden. So kommt man vom Erzählstil zur Sprache der Ich-Erzählerin und damit zu den Themen Schule, Jugend und Diskriminierung. Und warum sollten diese Themen auch getrennt sein? Die Autorin zeigt, wie subtil und kleinschrittig Menschen diskriminiert werden können, und wie all diese kleinen Schritte zu einem Leben werden, zu Ergebnissen führen, die eigentlich andere hätten sein können, sollen, müssen, zu schlechten Noten, Schulabbrüchen, Schweigen. Und dann folgen die Fragen, woran es denn gelegen habe, so als trüge die Person, der man etwas angetan hat, selbst die Schuld daran.

„Streulicht“ ist kein aufbauendes Buch, aber es hilft, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen, fremde Verhaltensweisen wahrzunehmen und ebenfalls zu hinterfragen, und wieder einmal festzustellen, dass auch kleinste Handlungen Konsequenzen haben, sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Summe.

Schwächen des Buchs:

Es passiert nicht viel. In den Stärken von „Streulicht“ steht es ja bereits. Es gibt keine Actionszenen, keine offensichtliche, öffentliche Diskriminierung, keine sichtbaren Kämpfe, sondern Mikroaggressionen, gedankenlose Aussagen, die von unreflektierten Vorurteilen herrühren, Benachteiligungen und Sätze, die nur gesprochen werden, wenn alle anderen den Raum verlassen haben. Wer nach Adrenalin sucht, wird kaum fündig werden, obwohl der Roman durchaus wütend macht. Der Stil führt dazu, dass man aufmerksam lesen muss. Man sollte die Details, die immer wieder aufgegriffen werden können, nicht übersehen und man sollte verstehen, was manche Bemerkungen und Handlungen, die manche Menschen vielleicht als Lapalien abtun werden, anrichten können. Eine Schwäche ist das alles nur, sofern es an Sensibilität und Aufmerksamkeit mangelt, oder man eben Lust auf Action und eine Art Form von Spannung hat.

Mein Fazit zu „Streulicht“ von Deniz Ohde:

„Streulicht“ von Deniz Ohde ist ein stiller Roman über Themen, die nicht totgeschwiegen werden sollten. Stilistisch passend zum Inhalt, aber nicht für jede*n spannend genug. Es geht um ein stilles Leben, das mehr als einen Aufschrei verdient hätte. Ich war traurig beim Lesen des Buches und bin traurig, dass es zuende ist.

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Streulicht

Deniz Ohde

Gegenwartsliteratur
Softcover, 284 Seiten

erschienen bei Suhrkamp

17. August 2020

ISBN 978-3-518429631

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