Ein guter Kampf – Annette, ein Heldinnenepos

Ein guter Kampf – Annette, ein Heldinnenepos

Die vielen Stationen des Lebens von Anne Beaumanoir in Form eines Epos. Sie kämpft im französischen Widerstand gegen die Nazis und später gegen die Kolonialherrschaft der Franzosen für die Unabhängigkeit Algeriens, arbeitet als Neurologin und Regierungsmitglied des neugegründeten Staates Algerien, wird verhaftet, verurteilt, eingesperrt und ist mehrmals auf der Flucht. Dazwischen rettet sie Leben und gründet eine Familie. Eine wahre Geschichte.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Anne Beaumanoir gegoogelt, um ein Gesicht zur Lebensgeschichte zu haben.
  2. Mich gefragt, wie so viel Leben in ein Leben passt.
  3. Geatmet.

Mein Eindruck zu „Annette, ein Heldinnenepos“:

„Annette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber ist Roman des Jahres 2020 (Begründung der Jury des Deutschen Buchpreises: https://www.deutscher-buchpreis.de/archiv/jahr/2020). Nachdem ich andere Werke aus der Longlist und Shortlist gelesen hatte, wollte ich auch das Siegerinnenwerk kennenlernen.

Neben der Form des Epos, die man in neueren Veröffentlichungen eigentlich gar nicht mehr findet, ist besonders die Lebensgeschichte der Hauptfigur Anne Beaumanoir, genannt Annette, faszinierend. Anne Beaumanoir ist eine reale Person, was 1. nicht alle wissen, man 2. schnell anzweifeln kann angesichts der Fülle ihrer Erlebnisse und 3. die Geschichte noch spannender macht.

Stärken des Buchs:

Zuallererst muss man den Willen zum Widerstand, die Hoffnung auf eine bessere Welt, den Glauben an Gerechtigkeit und die schiere Kraft von Anne Beaumanoir bewundern. Dieses Leben ist erzählenswert. Der Klappentext fragt, ob ihre „Heldentaten […] nicht besser gesungen werden“ sollten. „Heldinnentaten“ hätte mir besser gefallen, nun ja. Wenn die Geschichte selbst und ihre Hauptfigur sowohl hochinteressant als auch real ist, also Auswirkungen auf unsere eigene Geschichte gehabt hat, kann kaum noch etwas schiefgehen. Oder?

Epen handeln von Helden. Männlichen Helden. Das ist immer so gewesen. Diese Form bewusst zu verwenden, um das Leben einer Frau zu würdigen, und die Geschichte im Titel explizit als „Heldinnenepos“ auszuzeichnen, deutet bereits unübersehbar auf den feministischen Grundton des Werkes hin. Eine Erzählform, die Männer feiert, sogar besingt, für ein Frauenleben umzudeuten, ist ein kleiner Akt des Widerstands, der gut zum Inhalt passt. Neben dieser guten und mutigen Wahl – wer würde heutzutage ein Epos veröffentlichen und sich dabei Erfolg ausmalen? – ist das Werk stilistisch gelungen. Passend zur epischen Form verwendet Anne Weber immer mal wieder Binnenreime, die Zusammenhänge betonen oder auch ironisch wirken. Generell erzählt und hinterfragt die Autorin mit einer Ironie, die nicht aufdringlich ist, sondern dem Denken hilft und die teils schwere Kost der Geschichte verdaulicher gestaltet.

Ein weiterer Vorteil eines Buches wie „Annette, ein Heldinnenepos“ über das bewegte Leben einer real existierenden Person ist, dass die Erzählung durch die Weltgeschichte führt und den Leser*innen diese näherbringt. Vielleicht sind wir Deutschen noch halbwegs vertraut mit der Geschichte des Widerstands der Franzosen (und Französinnen) gegen die deutschen Besatzungstruppen im Zweiten Weltkrieg – dann jedoch selten aus so persönlicher und dazu noch weiblicher Perspektive. Allerdings mit dem Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs werden die wenigstens hierzulande vertraut sein. „Annette, ein Heldinnenepos“ lehrt uns also neben einem Sinn für Gerechtigkeit auch historische Fakten, was immer nützlich und (in diesem Fall) interessant ist.

Als ich das Buch zuerst in die Hand genommen hatte, befürchtete ich eine trockene Geschichte, von der Form eingezwängt. Damit hatte ich mich zum Glück vertan. Wir lernen Annette kennen und bewundern, lernen auch ihre Fehlentscheidungen kennen, die Gründe dafür und die Reue danach. Wir begleiten eine Heldin, die immer für das Gute und Gerechte kämpft, auch wenn sie dabei mit schlechten und ungerechten Menschen zusammenarbeiten muss. Auch diese moralischen Grauzonen, Fehltritte und Sorgen lernen wir kennen. Sie werden nicht lange ausdiskutiert, sondern präsentiert, hinterfragt und unserem Urteil überlassen, doch nicht ohne einen milden Blick der Erzählung selbst auf ihre Heldin.

Schwächen des Buchs:

Ich frage mich, ob ich „Annette, ein Heldinnenepos“ nicht mehr genossen hätte, wäre es nicht in der Form eines Epos verfasst gewesen. Anfangs sitzt man vor den Versen und weiß nicht recht, wie sie zu lesen, wie zu betonen sind. Muss man sich mit klassischen Epen auskennen, um dieses Epos zu genießen? Es schadet nicht. Es schadet auch absolut nicht, wenn man sich in der französischen Literatur auskennt, Camus gelesen hat, besonders seinen „Mythos des Sisyphos“, und generell hier und da mehr Bildung besitzt als, sagen wir mal, ich. Dieses Einflechten von Büchern der „Weltliteratur“ lässt „Annette, ein Heldinnenepos“ gelegentlich wie ein Musterbeispiel von „Hochliteratur“ erscheinen und damit als schwer (oder schwerer als nötig) lesbar für viele Leser*innen. Man kommt auch gut aus, ohne all die anderen Bücher gelesen zu haben, aber, wie oben erwähnt, es schadet sicherlich nicht.

Mein Fazit zu “Annette, ein Heldinnenepos”:

Die Lektüre von „Annette, ein Heldinnenepos“ ist nicht immer leicht, aber lohnt sich durchaus. Man lernt viel, staunt über die Kraft von Anne Beaumanoir, stellt sich Fragen zu Machtverhältnissen und möglicherweise zur eigenen Untätigkeit angesichts unzähliger Ungerechtigkeiten in der Welt. Aber das reine Lesevergnügen leidet ein Stück weit unter dem Berg von Ansprüchen, den Anne Weber an ihr Werk und damit an ihre Leser*innen stellt.

Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.



Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber

Gegenwartsliteratur
Hardcover, 208 Seiten

erschienen bei Matthes & Seitz Berlin

28. Februar 2020

ISBN 978-3-957578457

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