Junge ODER Mädchen. Dazwischen gibt’s nichts. – Boy2Girl [Rezension]

Junge ODER Mädchen. Dazwischen gibt’s nichts. – Boy2Girl [Rezension]

Matts Cousin zieht zu ihm. Er ist langhaarig, amerikanisch, stinkt und benimmt sich aggressiv und irgendwie komisch. Na klar, seine Mutter ist gerade gestorben, da ist man etwas komisch. Aber Sam bringt nur Ärger. Um ihn nach einem Vorfall in der Clique loszuwerden, tragen Matt und seine beiden Freunde ihm eine unmögliche Mutprobe auf. Die soll er nicht schaffen, und dann haben Matt und die Jungs endlich Ruhe vor diesem komischen Jungen. Sam soll sich als Samantha in der neuen Schule vorstellen. Als Mädchen. Komplett. Eine Woche lang. Dabei soll Sam die blöden Zicken, mit denen die “Bunkerbande” schon immer Krieg hatte, aushorchen. Dann aber kommt alles anders: Die auszuhorchenden Zicken werden Sams ernsthafte Freundinnen. Er fühlt sich wohl unter ihnen, und es war, als wäre er schon immer ein Mädchen gewesen …

 

Startinventar des Sexismus:

In Boy2Girl* ist die Welt schwarz-weiß. Sexistisch. Aber sowas von! Jungs spielen Fußball, Mädchen reden über Gefühle. Jungs müssen hart sein. Cool auch, aber vor allem hart. Mädchen interessieren sich nur dafür, wie sie den heißesten Typen der Schule rumkriegen können. Der heißeste Typ der Schule spricht von sich in der dritten Person, etwa: “Ein Mark Kramer ist keiner, dem man eine Abfuhr gibt.” Jungs beleidigen sich gegenseitig mit “schwul”.

Ein guter Rat, der das schlimme Verhalten anderer psychologisch fundiert (für 13-jährige!) erklärt, ist “oberschwul”. Lieber über Actionfilme reden. Und Mädchen? Die reißen sich um ihre Freundinnen. Jahrelange Freundschaft wird sofort mit augenzerkratzendem Gebitche beendet, weil irgendwer irgendeinen Typen falsch angeguckt hat und man eifersüchtig ist. Ich-Bezogenheit und Glamour-Verlangen inklusive. Ach so, und kriegt eine von ihnen ihre Tage, wird das im Flurfunk den gesamten Hühnern der Schule erzählt.

Und noch mehr Vorurteile

Sams Vater “Crash” ist ein harter Gangster-Typ, der Leute verschwinden lässt, wenn sie ihm im Weg stehen. Er sucht sich Frauen mit Brustimplantaten und findet darunter eine, die gut genug aussieht, um ihm zur Seite zu stehen. Egal, was der Typ den ganzen Tag lang macht: Es muss gefährlich und kriminell sein. Ottoleen ist die vollbusige Blondine an seiner Seite, die auf ein: “Ganz schön clever für ein Weib” mit “Danke” reagiert.

Und in dieser grausamen Welt lebt Matt. Sein Vater arbeitet in Teilzeit, kann besser kochen als alle anderen und putzt eigentlich den ganzen Tag. Seine Mutter arbeitet in einem Büro, verdient das Geld für die Familie und ist selten da. Und dann kommt da Sam ins Spiel, der der härteste, coolste und pseudo-kriminellste 13-Jährige in der Hood ist, der dann aber doch… na, ja… lieber ein Mädchen wäre.

Was ich von Boy2Girl erwartet habe:

  1. Massives Aufräumen mit Sexismus
  2. Sam ist transsexuell und die anderen müssen damit klarkommen
  3. Die Welt von Matt wird komplett auf den Kopf gestellt

Mein Eindruck zu Boy2Girl:

Boy2Girl* ist eine Schullektüre. Und ich weiß nicht, wieso man so ein Buch 13-jährigen Schülerinnen und Schülern zum Lesen gibt. Es ist für heutige Verhältnisse rückständig und prägt unsere Jugend mit einem falschen Bild. Es geht nicht um Transsexualität und darum, dass es mehr gibt als Mädchen und Jungen. Unterm Strich geht es einfach nur darum, dass Jungs die Mädchen in Ruhe ihre Dinge machen lassen und Mädchen die Jungs akzeptieren. Die Höhe der Geschichte ist die Akzeptanz einer gemischten Clique unter 13-Jährigen. That’s it. Sehr enttäuschend.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Die Idee, das Konzept von Boy2Girl selbst neu zu schreiben, gehabt
  2. Mittagsschlaf gemacht
  3. Die Idee verworfen

Stärken des Buchs:

Gerade als Schullektüre hat Boy2Girl den großartigen Vorteil, dass jedes Kapitel in kleine Abschnitte eingeteilt ist. Man erfährt die Geschichte rund um Sam Lopez aus der Sicht von allen Beteiligten. Diese Perspektiv-Abschnitte sind zwischen einer Zeile und drei Seiten lang. Somit gibt es ständig Perspektivwechsel, was es leicht macht, Abwechslung und Geschwindigkeit in den Text zu bringen. Natürlich ist vieles vorausschaubar, aber die Geschichte macht Spaß zu lesen.

Stark an Boy2Girl finde ich auch die Grundidee. Ein Junge, der sich als Mädchen verkleidet und damit durchkommt. Das ist eine Idee, die mir gefällt. Sexismus hin oder her. Es ist eine tolle Grundlage, um Themen unter jungen Lesern auszubreiten, die wichtig sind. Aufklärung, Scham, Pubertät, körperliche Unterschiede. Vorurteile, Gleichberechtigung, Ungerechtigkeit.

Mordgedanken gegen Buchcharaktere

Stark war die Mutter von Tyrone. Sie ist die widerlichste, ekelhafteste und abscheulichste Rabenmutter der Welt. Ich hätte sie durch das Buch hindurch gerne gewürgt und ihr ihren Sohn weggenommen. Dass ein Charakter so etwas bewirken kann, ist klar eine Stärke.

Unterm Strich war Boy2Girl wirklich ein tolles Lesevergnügen, weshalb ich wegen der folgenden kritischen “Aber”s nicht allzu viele Sterne von der Gesamtbewertung abziehen möchte. Ich darf schon einmal vorwegnehmen: Schriftstellerisch bekommt dieses Buch viereinhalb Sterne von mir. Aber Bücher, gerade Jugendbücher, die heutzutage in der Schule durchgenommen werden, brauchen auch eine inhaltliche Auseinandersetzung. Und die findet im folgenden Bereich statt.

boy2girl, Foto: Kia Kahawa
boy2girl, Foto: Kia Kahawa

Schwächen des Buchs:

Ich komme nicht umhin, die Story von Boy2Girl ein wenig zu spoilern. Aber es geschieht aus gutem Grund, denn die Geschichte ist locker, flockig, leicht und – oberflächlich.

Während Sam sich als Mädchen verkleidet, merkt sein Umfeld, dass er sich viel besser fühlt. Er spricht über Gefühle, mag Mädchenkram und hat Freundinnen. Aber das war’s auch. Es geht nicht in die Richtung: “Vielleicht will er lieber ein Mädchen sein”, auch nicht in Richtung: “Meine Güte, der Junge verhält sich gerne so, lass ihn doch”. Es ist im Buch schlichtweg falsch, wenn ein Junge lieber ein Mädchen wäre – oder wenn er sich wenigstens gerne wie sie verhält.

Die Sache mit Mark

Dann gibt es da Mark Kramer. Ein ekelhafter Typ. Aus ihm kann man nicht schlau werden. Das ist unmöglich, denn diese Figur ist etwa so fein ausgearbeitet wie eine Spielfigur von “Mensch ärgere dich nicht”. Das erste, was er macht, wenn er Sam Lopez als Mädchen kennenlernt, ist, ihr aufzulauern und sie verprügeln zu wollen: Denn er ist der coolste Typ der Schule, und wenn ein Mädchen provokant und beliebt ist, geht das nicht. Dann geht er mit ihr aus, und ständig dieses widerliche “Baby” am Ende seiner Sätze!

Leider verprügelt Sam nicht ihn, sondern Hooligans bei einem Fußballspiel. Nachdem sie – ähh, er – mit dieser Aktion in der Zeitung landet, will Mark sie rumkriegen. Mit ihr zusammenkommen. Um sie abzuservieren und der zu sein, der Sam Lopez das Herz gebrochen hat. Höchstpersönlich. Gleichzeitig stehen alle Weiber auf ihn, finden ihn aber auch abstoßend. Das ist merkwürdig und passt nicht so recht in die Geschichte.

Unglaublich oberflächlich war auch alles andere rund um die “Liebe”. Ein Mädchen verliebt sich in Sam, während sie glaubt, er sei ein Mädchen. Es geht aber mit keinem Wort darum, dass es auch Lesben auf der Welt gibt. Zwei Mädchen zusammen ist nach diesem Buch offensichtlich nicht okay. Sie reden auch nie drüber. In einer Zeile wird erwähnt, dass sie darüber geredet haben, und nachdem Sam dem Mädchen gestanden hat, dass er in Wirklichkeit ein Junge ist, können sie natürlich zusammenkommen.

Dabei hatte es Potential…

Ich hätte mir bei Boy2Girl, gerade weil ich herausgefunden habe, dass es eine moderne Schullektüre ist, gewünscht, dass es mehr Knackpunkte gibt. Knackpunkte, an denen der Lehrer eine Stunde gestalten kann und über Homophobie, Trans-, Bi- und Pansexualität sprechen kann. Auch als sich Sam charakterlich total verändert, cholerische Ausbrüche hat und merkwürdig wird, ist das nach dem kürzlichen Tod seiner Mutter für mich verständlich. Ich kann das alles nachvollziehen, aber es wird kein Wort über den Tod oder Trauerverarbeitung verloren. Das ist schade. Ich vermisse wirklich alles, was zu einem gleichberechtigten und schlichtweg richtigen Weltbild beiträgt.

Was die Kinder dazu sagen

Die Amazon-Rezensionen der Kinder sprechen hier eine deutliche Sprache und zeigen, wie sexistisch unsere Jugend heute leider immer noch ist:

“Passend wäre es für alle, die das andere Geschlecht besser verstehen möchten.”

“Das Fazit von diesem Buch ist das das Buch eher ein Buch für Mädchen ist da es auch viel um Mädchenproblemen handelt und für Jungs ehr langweilig weil so gut wie keine Spannung vorhanden ist, aber es kommt auf den Geschmack vom Leser drauf an.”

“Wir würden das Buch Kindern im Alter von 7-9 Jahren weiterempfehlen.”

“Das Buch ist außerdem sehr an die Zielgruppe Mädchen gerichtet, da es sich viel mehr mit Mädchenthemen befasst(z.B. Schminke und Klamotten), als mit Themen für Jungs.”

“Das Buch war OK ,aber es ist eher etwas für Mädchen zu lesen da es hauptsächlich um Mädchenprobleme geht . Man kann aber auch als Junge lesen doch dann ist es wie ich finde nicht so interessant ,doch das bleibt jedem selbst überlassen.”

Mein Fazit:

Boy2Girl* hatte großartiges Potential. Der Autor hat Talent im Schreiben. Die Rechtschreibung ist hervorragend, die Charaktere überzogen, die Anführungszeichen üben wir noch, lieber Gulliver-Verlag.

Insgesamt ist mein Fazit durchwachsen, und ich denke, es lässt sich wie folgt zusammenfassen: Lesbarkeit, Stil und Spaß sind fantastisch. So lange, bis man an die Stelle kommt, an der man merkt, dass die Erwartungen an das Buch nicht erfüllt werden. Boy2Girl hat Potential nach oben, könnte viel mehr sein. Ist es aber nicht. Und wären dort endlich die wichtigen Themen, die wir in den Schulen besprochen haben müssen, wäre es sicherlich keine Schullektüre. Ärgerlich!

Ihr wollt mehr von Kia lesen? Hier findet ihr all ihre Rezensionen auf einen Blick!

 



Boy2Girl

Terence Blacker

Jugendbuch ab 12 Entwicklungsroman
Softcover, 283 Seiten
erschienen bei Gulliver von Beltz & Gelberg
2006
ISBN 978-3-407789730
8,95 € bei Amazon*

 

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