Wer versteht schon die Franzosen? – Im Durcheinanderland der Liebe [Rezension]
Im Durcheinanderland der Liebe geht es um Ulik, der Botschafter der Inuit, der zu Gast in der Welt der Kablunak ist. Kablunak, das sind die Bleichgesichter. Weiße Menschen. In diesem Fall, wie könnte es bei François Lelord anders sein: Die Kablunak sind Franzosen. Eigentlich ist Ulik mit Naravanava verlobt, und er will sie nicht mit einem Konkurrenten wie Kuristivocq allein lassen. Dennoch kommt er nach Paris, und dort lernt er neben Marie-Alix auch andere reizenden Frauen kennen. Diese bringen Ulik ganz schön durcheinander. Damit ist nicht das typische Liebesroman-Kopfverdrehen gemeint, sondern ein sehr spezielles, Inuit-Frankreich-Kopfverdrehen, ein Ist-das-noch-Sexismus-oder-Tradition-Kopfverdrehen. Eine schöne Geschichte, die in typischer Lelord-Manier konstruiert und erzählt ist.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Oberflächlichkeit verdammt
- Rezensionen zum Durcheinanderland der Liebe gelesen
- Die Hector-Reihe weitergelesen
Mein Eindruck zu Im Durcheinanderland der Liebe:
Im Durcheinanderland geht es nicht nur um Liebe. Es geht um unsere Gesellschaft. Wenn man die Franzosen mit den Inuit vergleicht, sieht man, was unsere europäische Kultur von der der Inuit unterscheidet. Im Stamm, von dem Ulik kommt, verdient jeder Jäger gleich viel. Jeder hat genug zu Essen. Gerechtigkeit ist wichtig. In Europa ist das nicht so. Einige verdienen am Tag mehr, als sie im Jahr ausgeben können. Andere schlafen auf der Straße und wissen nicht, wie sie überleben sollen. Neben diesen großen Vergleichen legt „Im Durcheinanderland der Liebe* viel Wert auf die unterschiedliche Rollenteilung. Frauen können in Europa genauso arbeiten wie Männer. Undenkbar für die Inuit. Wer soll denn die Kinder erziehen? Dazu kommt, dass in seiner Welt eigentlich die Männer Frauen begehren und sie umwerben. In Frankreich scheint das andersherum zu sein, und er lässt sich extrem schnell von Frauen durcheinander bringen.
Stärken des Buchs:
Warnung wegen Befangenheit: Ich habe alles von François Lelord gelesen und habe nicht vor, jemals damit aufzuhören, jede seiner Neuerscheinungen bedingungslos und umgehend zu kaufen. François Lelord zeichnet sich durch seinen leichten, nicht plumpen, aber auch nicht eleganten Sprachstil aus. Seine Werke lesen sich wie Kinderbücher, haben etwas Naives, Unschuldiges, Reines. (Bis auf die Hector-Reihe Band 7, ich werde dazu noch eine Rezension verfassen! Stilbruch-Alarm.) Ich liebe es, wie der Autor schreibt. Und im Durcheinanderland der Liebe ist dieser Stil auch einfach treffend.
Man liest das Buch schnell durch, kann sich alle Personen und Orte super vorstellen, und meiner Meinung nach ist dieser Roman auch für Hector-Fans eine Empfehlung wert. Natürlich hat die Psychologie nun deutlich weniger Platz im Buch, aber trotzdem liest es sich wie ein echter Lelord.
Im Durcheinanderland der Liebe werden viele guten Dinge gesagt. An einer Stelle beispielsweise wird Ulik gefragt, was passieren würde, wenn der beste Jäger seines Stammes zehn Mal so viel verdienen würde wie die anderen. Ulik lehnt den Gedanken ab und sagt, das wäre nicht vorstellbar. Auf die Frage, warum er sich das nicht ausmalen könne, antwortet er: „Zu viel Hass.“
Solche Aussagen halte ich für fantastische Gleichnisse unserer doch ziemlich kranken Gesellschaft. Und die stellt Lelord gut für die aufmerksamen und geduldigen Leser heraus. Zwischen all der Banalität, dem doch sehr überspitzt-primitivem Klischee-Rollenbild und Themen wie Umwelt und Ölkonzernen schafft es „Im Durcheinanderland der Liebe“ doch, viel Gesellschaftskritik einfließen zu lassen.
Schwächen des Buchs:
Kommen wir zu den Schwächen.
Ich halte Ulik für primitiv. Das ist eine gewagte Aussage, und ich weiß einfach nicht, ob sie seiner Herkunft und seinen Lebensumständen, oder Lelords typischem Weltbild geschuldet ist. Der nicht ganz so starke Mann liebt die schöne, kluge und auch emotional intelligente Frau, die ihn irgendwann unter seine Fittiche nimmt. Das ist Lelords allgemeines Bild.
In Uliks Kopf geht es immer nur um das, was man mit Frauen machen kann. Idealerweise Sex. Prostitution, die er in Frankreich überhaupt als Beruf kennenlernt, hält er für den perfekten Beruf. Er wäre gern Prostituierter, um mit so vielen Frauen schlafen zu können, wie Ulik will. Hier hätte ich mir ein bisschen mehr Charakterentwicklung gewünscht. Mehr reflektieren, mehr Hintergrund.
Auch finde ich die Sicht auf die Liebe in „Im Durcheinanderland der Liebe“ von François Lelord aus den Perspektiven von Mann und Frau etwas gefährlich gestaltet. Es klingt alles sehr nach „Der Mann ist so.“ und „Die Frau ist so.“ Das habe ich in meiner Rezension zu „Boy2Girl“ schon mehr als genug besprochen. Die Charaktere sind also ziemlich einseitig, und für mein Verständnis zu sexistisch gestaltet.
Im Durcheinanderland der Ethik:
Als ich in der siebten Klasse war, haben wir in Ethik über das Thema Tod und Alter gesprochen. In Deutschland ist jedes Leben lebens- und erhaltungswürdig, und auch einen 99-jährigen Mann würden Ärzte noch operieren, wenn es ihm weitere Überlebenschancen gibt. Bei den Inuit lassen sich die Alten irgendwann bei der Jagd einfach vom Schlitten fallen, um zu erfrieren. Die Jäger wissen davon, hören auch den Aufprall des alten, noch lebenden Körpers auf dem Eis, ziehen dann aber weiter. Dem liegen zwei Weltbilder zugrunde. Hier in Europa sagen wir, so lange wir leben können, sollten wir leben. Bei den Inuit heißt es eher: Wenn der Alte dem Stamm nicht mehr dienlich ist und nur noch belastet, will er ihn entlasten.
Solche Themen hätte ich gerne in diesem Buch gehabt. Wenn schon Inuit, dann richtig, mit all diesen ethischen, aufwühlenden Fragen! Aber das kann man von einem Durcheinanderland der Liebe natürlich nicht erwarten. Ich hätte gerne ein Durcheinanderland der Ethik gelesen. Vielleicht schreibe ich es selbst.
Mein Fazit zu Im Durcheinanderland der Liebe:
Wow, ich hätte nie gedacht, dass ich als Antisexistin ein Buch mit solchen Ansichten mögen kann. Ich glaube, das ist den Aussagen drum herum und der Herkunft des Protagonisten geschuldet. Auch, wenn ich gegen Sexismus kämpfe, so kämpfe ich nicht gegen Sexismus bei den Inuit. Wenn die Menschen dort in ihren Iglus leben, die Frauen die Kinder versorgen, Felle zu Kleidung nähen und Nahrung zubereiten, während die Männer jagen… Dann ist das so. Ich finde, „Im Durcheinanderland der Liebe* hat mir ein wenig vor den Kopf gestoßen, und das dürfte für jeden Antisexisten (und auch für jeden Feministen) ein interessantes Erlebnis sein. Leider kommen die Inuit nur am Rand der Geschichte vor, der Fokus liegt auf Frankreich und Uliks Unverständnis unserer Lebensweise in Europa. Das ist meiner Meinung nach eher mäßig gut umgesetzt worden, und daher bin ich ein bisschen enttäuscht. Das ganze „Ich will die Frau ficken, weil sie gut aussieht“ hat meine Bewertung zusätzlich nach unten korrigiert.
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Im Durcheinanderland der Liebe
François Lelord
Entwicklungsromanerschienen bei Piper
01. September 2009
Kia liest. Nicht nur Sachbücher zur persönlichen Entwicklung und Schreibratgeber, sondern auch Entwicklungsromane, nerdige Science Fiction und alles, was zwischen Utopie und Dystopie ein bisschen Drama angereichert hat. Beim Buchensemble gibt sie hin und wieder Einblicke in ihre Reiseberichte, die sie beim Durchqueren spannender Welten anfertigt.