Kabelsalat im Kopf – Der Kälberich
Im fensterlosen Untergrundbüro sitzt ein Mann, spitzt Bleistifte, makuliert Papier und kocht Kaffee. Doch seine Hauptbeschäftigung ist das Erinnern an eine Spätsommernacht, an Menschen mit seltsamen Namen, an einen Wiederwandler, Cowboys, Außerirdische und Alkohol und ein Geschehnis, das ihn nicht mehr losgelassen hat.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Einen Freund getroffen.
- Geredet.
- Geschwiegen.
Mein Eindruck zu „Der Kälberich“:
Es fällt mir schwer, überhaupt etwas über „Der Kälberich“ von Leif Høghaug zu sagen, besonders in wenigen Worten. Die kürzeste Aussage wäre wohl: Ich war durchgehend fasziniert, obwohl ich vermutlich nur die Hälfte verstanden habe.
Ich empfehle, nach der Lektüre unbedingt das Nachwort des Übersetzers Matthias Friedrich zu lesen.
Stärken des Buchs:
Es ist anders. „Der Kälberich“ ist stilistisch völlig anders als alles, was ich bisher gelesen habe. Das liegt daran, dass Leif Høghaug das Original im lokalen Dialekt des südostnorwegischen Hadelands geschrieben hat, der sich unter anderem durch sehr viel Sprachspielerei auszeichnet, und dass der Autor etliche Bezüge zu Folklore, Landschaft, Politik und anderen Aspekten Norwegens und des Hadelands ins Buch eingebaut hat. Das wiederum musste mühselig in der Übersetzung (oder Übertragung?) umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass der traumatisierte Erzähler seine Erinnerungen nicht sortiert bekommt und immer wieder an verschiedenen Stellen neu ansetzen muss. „Der Kälberich“ liest sich also wie die Rede eines verwirrten Sprachakrobaten und man wird das Gefühl nicht los, man tauchte in trübem Wasser nach Puzzleteilen, um sie an Land zusammenzusetzen. Es werden immer Teile fehlen und trotzdem lohnt sich das Versuch.
Durch den ungewöhnlichen Stil von „Der Kälberich“ kommt es aber auch zu einigen Sprachperlen. Beispielsweise steht bereits auf Seite 1: „dieses durch und durch eingemoderte Mannsgehäuse, das, so meine ich, noch immer ich sein muss“. Außerdem lernt man einige neue Wörter. Zumindest ist es mir so gegangen. Ich frage mich allerdings noch immer, was denn ein „mechanischer Pumpelnisse“ genau ist.
Trotz oder wegen aller Verwirrungen, die der Stil hervorruft, hat man beim Lesen fast immer interessante nebelige Bilder im Kopf, Ungefähres und Wandelndes entsteht. Man glaubt, etwas gegriffen zu haben, das kurz darauf anders aussieht, sich anders anfühlt. Vieles ist unklar, aber dennoch scheint man zu verstehen, immer wieder neu. Genau so unklar ist übrigens auch die Genreeinordnung. Aber das macht ja nichts.
„Der Kälberich“ besteht natürlich nicht nur aus Sprache. Ein dominantes Thema ist Gewalt: drohende Männer, brutale Männer, Männer, die Männer fertigmachen, Incels, Protzerei, toxische Männlichkeit. Es wird gemobbt und gedroht und geschlagen und geschossen und keine Schwäche toleriert. All das aus Sicht eines Traumatisierten, nicht eines Täters, vielleicht eines unwilligen Mittäters. „Der Kälberich“ ist kein Fest angeblicher Männlichkeit, sondern ein kritischer Blick darauf. Doch auch dieser Blick geht immer durch Nebel.
Zuletzt ein paar Worte zum Äußerlichen. Als ich „Der Kälberich“ zuerst in der Hand hielt, sprang mir das Wort „liebevoll“ in den Kopf. Man hat sich offenbar Mühe gegeben. Nicht nur muss die Übersetzung eine schwierige Aufgabe gewesen sein, sondern auch Cover, Haptik, Papierwahl, Buchsatz und alles, was sonst noch äußerlich zum Roman gehört, hat Qualität.
Schwächen des Buchs:
Der oben erwähnte Stil macht das Lesen schwierig. Es kommt vor, dass über Seiten nur Kinderreime und lallende Wiederholungen vorkommen, die ins Gesamtkonzept passen, aber eben anstrengend sein können. Allein der ständig konzentrierte Blick auf Details, die wieder mehr verraten könnten von dem, was überhaupt passiert ist in der Spätsommernacht, kostet Energie, die nicht jede*r beim Lesen aufbringen möchte.
Vielleicht keine Schwäche, aber ich warne hier trotzdem: in „Der Kälberich“ geht es gerne mal etwas derber zu, sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Es gibt Exkremente, Blut, Tod, Gewalt und jede Menge Suff. „Der Kälberich“ ist kein feine-Leute-Buch. Wenn ich das so lese, klingt es fast wie eine Stärke.
Mein Fazit zu „Der Kälberich“:
„Der Kälberich“ ist ein schwer zu fassendes Buch, das unterhaltsam und geradezu faszinierend ist, wenn man sich darauf einlassen kann. Zum vollständigen Verständnis des Werkes benötigt man allerdings etliche Anmerkungen (beispielsweise vom Übersetzer) und auch einiges an Bildung in Sachen Norwegen und Hadeland (Folklore, Kultur, Politik etc.), die wohl den meisten (wie mir) fehlt. Ich schwanke stark zwischen den Bewertungen 3.5 und 4, was beides gut ist in meinen Augen, gebe also 4, weil mir alles am Projekt so sympathisch erscheint.
Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.
Der Kälberich
Komödie
erschienen bei brotsuppe
26. April 2021
Matthias liest langsam, weil er nach mehr sucht als nur Unterhaltung. Er sucht nach Tiefe, sprachlichen Höhepunkten, großartigen kleinen und großen Ideen und der einen Zeile in jedem guten Buch, die ihn wirklich berührt. Anspruchsvolle Romane, Graphic Novels, Lyrik, Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und andere Texte werden auf der großen Suche durchgearbeitet. Lesen ist für ihn immer auch Recherche fürs Schreiben und damit fürs Leben.