Perfekte Verwirrung – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt [Rezension]

Perfekte Verwirrung – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt [Rezension]

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt ist ein Roman von Peter Stamm, der mir als Liebesroman für meine Recherchen empfohlen wurde. Eigentlich wollte ich Klischees, aber die Buchhändlerin ist es wohl eher gewohnt, klischeelose Bücher zu empfehlen, und so kam ich an diesen gefühlt völlig liebesfreien Roman über das verwirrte Universum im Bezug auf zwei Paare.

Lena und Chris (2) sind jung. Magdalena hat ihren Chris (1) verlassen. Chris (1) macht einen langen Spaziergang mit Lena und erzählt ihr, wie sie ihren Chris (2) kennengelernt hat, wie ihre Schauspielerkarriere verlaufen ist und welche Fehler sie bisher gemacht hat und welche sie noch machen wird.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. An Magret gedacht. Das hier ist ein ideales Magret-Buch!
  2. Überlegt, ob das am Ende Chris 3 oder Chris 2 war.
  3. Ins Meer gegangen (brr, kalt!!) und 45 Minuten nicht mehr rausgekommen.

Mein Eindruck zu Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt:

Mit “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt* halte ich ein geniales Stück Literatur in der Hand. Ich weiß immer noch nicht, wann etwas wirklich Literatur ist, aber ich weiß, dass dieses Buch definitiv echte Literatur ist. Ein Klassiker der Zukunft, und zugleich eines jener Bücher, die sicherlich niemals Schullektüre werden, da dieses Buch zu tiefgründig, bewegend, intelligent und genial zugleich ist. Ihr seht: Meine Meinung von Schullektüren bzw. deren Wahl ist seit Boy2Girl noch tiefer gesunken als ohnehin schon.

Alles in allem ist dieses Buch eine herrliche Geschichte, die anspruchsvoll und dennoch nicht aufgeblasen ist. Es geht um die Liebe, aber ohne Romantik, und alles ist ziemlich creepy und somit total gewöhnlich. Nur das Cover hat mich sehr enttäuscht: Ich hätte das Buch nicht gekauft, hätte meine Buchhändlerin es mir nicht liebevoll aufgedrängt. Ich finde das Cover furchtbar. Sorry, liebe*r Designer*in, aber das verrät nichts über den Inhalt und unterschlägt die Wortgewalt des Titels, es wird diesem Meisterwerk einfach nicht gerecht.

Cover von Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt am Steinstrand in Bojendorf. Foto: Kia Kahawa
Cover von Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt am Steinstrand in Bojendorf. Foto: Kia Kahawa

Stärken des Buchs:

Um die Stärken von “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” hervorzuholen, muss ich ein bisschen mehr über den Inhalt verraten.

Der alte Chris und die junge Lena spazieren durch die Gegend und sprechen miteinander. Es geht um Chris’ Leben als Schriftsteller, der schon lange aufgehört hat zu schreiben, und um Lenas Karriere als Schauspielerin. Ihr Kennenlernen, ihre gemeinsamen Träume, die Beginne der Beziehungen und die Fehler, die sie beide gemacht haben. Es stellt sich heraus, dass Lena und Chris (2) tatsächlich die exakt gleiche Beziehung, das gleiche Äußere und die gleichen Ansichten, Karrieren und Ziele haben wie Magdalena und Chris (1).

Rückblenden und Anführungszeichen

Es gibt immer wieder Rückblenden, die eigentlich gar keine Rückblenden sind, weil sie ganze Kapitel einnehmen und dem Leser bewusst ist, dass das gesamte Kapitel gerade eigentlich nur die wörtliche Rede der Gegenwart war. In diesem Buch wird für den maximalen Verwirrungs-Effekt komplett auf Anführungszeichen aller Art verzichtet. Nachvollziehbar, verwirrend, und ein bisschen auf die Spitze getrieben. Denn auch, wenn es keine Anführungszeichen gibt, heißt das noch lange nicht, dass für die Lesbarkeit und die innere Stimme beim Lesen mal ein Zeilenumbruch gemacht wurde – die gibt es nämlich auch nicht, wenn in Gesprächen eine andere Seite spricht.

Das alles ist ziemlich stark. Der Leser soll nicht sofort wissen, wer spricht. Wir als Lesende sollen innehalten und überlegen, wer etwas gesagt hat und ob es nicht sein kann, dass die andere Person das gesagt hat. Ich bin sicher, würde Magret das Buch lesen und wir würden mit Textmarker Passagen anstreichen, mit denen Lena und Chris (2) oder Magdalena und Chris (1) gemeint sind, wären unsere Bücher nicht gleichfarbig angemalt. Das ist genial. Das ist die sanfte Gleichgültigkeit der Welt.

Der Buchtitel kommt übrigens nicht im Text vor. Er dient dazu, dem Leser einen Eindruck vor dem Lesen zu geben, und ihn nach dem Lesen völlig aus der Bahn zu werfen. Mehr kann ich dazu aber nicht spoilerfrei sagen. Aber lasst uns doch mal etwas tiefer in die Materie steigen, damit deutlich wird, wie stark dieses Werk wirklich ist.

Die brachiale Gleichgültigkeit des Universums

“Es sind die Fehler, die Asymmetrien, die unser Leben überhaupt erst möglich machen. Ich habe einmal mit einem Physiker gesprochen, der mir erklärt hat, das ganze Universum basiere auf einem kleinen Fehler, einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie, das beim Urknall entstanden sein muss. Hätte es diesen Fehler nicht gegeben, hätten sich Materie und Antimaterie längst wieder aufgehoben und es existierte gar nichts. Müsste denn nicht jede kleinste Abweichung sich vervielfältigen?, fragte Lena, jede Entscheidung, die er oder ich anders treffen als damals Sie und Magdalena, zu wieder und wieder anderen führen?”, Seite 81

Wenn das Unviversum unendlich ist (oder: sich in unendlicher Geschwindigkeit fortlaufend ausdehnt), ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Person, eine Begebenheit oder ein Leben doppelt gibt, bei 100 %. Das ist meine Überzeugung, und ich will mich hiermit nicht als Parallel-Universen-Verschörungstheoretikerin outen, denn das bin ich nicht.

Machen wir ein Gedankenexperiment.

Ich habe eine Münze und einen Papierkorb. Den Papierkorb stelle ich acht Meter von mir weg, verbinde mir die Augen, drehe mich zwei Mal im Kreis und will jetzt die Münze in den Papierkorb werfen. Ich wette mit dir: “Wenn ich eine Münze in diesen Papierkorb werfe, kriege ich 500 € von dir. Wenn ich es nicht schaffe, kriegst du 500 € von mir.”

Würdest du die Wette eingehen?

Wenn du dir denkst, das sei leicht verdientes Geld, hast du deine 500 € quasi schon verloren und eine sehr dumme Entscheidung getroffen.

Im Versuchsaufbau habe ich nicht festgelegt, wie viele Versuche ich habe. Also habe ich unendlich Versuche mit unendlich Münzen. Ich bin mir sicher, dass ich selbst als ungeübte Münzen-blind-und-schwummrig-in-Papierkorb-Werferin nach 10.000 Versuchen mindestens ein Mal treffen werde. Nach einer Million Versuche bestimmt 50 Mal (kann ja zwischendurch schlafen gehen, ich habe ja unendlich Zeit), und nach unendlich Versuchen … du verstehst schon.

Wie ich einfach anfing, Menschen mathematisch zu definieren

Lena zweifelt daran, dass es möglich ist, dass sie und Chris als Konstrukt zweier individuellen Leben als Paar in einer Beziehung genau so schon einmal existiert haben. Sie sieht nämlich die Facetten eines Menschenlebens. Laut Chris ist ein Mensch die Kombination aus Erfahrungen der Vergangenheit und Entscheidungen, die den Menschen zu dem gemacht haben, was er heute ist. Dazu kommen Entscheidungen anderer, zum Beispiel die Namenswahl der Eltern, der Ort, an dem ein Kind aufwächst, die Zusage für eine angestrebte Karriere und so weiter.

Lena denkt weiter. Sie sieht Menschen eher als Bestandteil eines Netzes. Wenn Lena das Leben von Magdalena lebt und ihr Chris nichts anderes ist als ein junger alter Chris, der dieselben Fehler begehen wird wie Chris, müsste doch auch Lenas beste Freundin, Chris’ Vater, der Biolehrer aus der Mittelstufe und der Mentor an der Schauspielschule eine Quasi-Reinkarnation der Nicht-Klone aus dem Leben von Chris (1) sein. Wenn wir das weiter denken, ist das Ganze … Ja, was sind wir dann? Denken wir mathematisch von diesen zwei Punkten aus, von den klitzekleinen Chris-Lena-Universen, müssten sich nach ihrer Theorie die Übereinstimmungen so sehr überschneiden, dass sie sie herausfinden müssten wie ein sich unendlich schnell ausdehnendes Universum.

Aber so weit geht “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” nicht. Hier lest ihr nur meine Gedanken, die ich anhand des Zitats von Seite 81 bekommen habe. Ich will eigentlich nur zeigen, was dieses 160 Seiten leichte Buch im Kopf seines Lesers auslöst. Und das ist eine ganze Menge.

Dann gibt es da noch das Wort “Fehler”, wie Lena es einsetzt, und ich könnte weitere 1000 Wörter ausschweifen. Stattdessen möchte ich eine zweite beeindruckende Stelle hervorheben.

Was wäre wenn?

Ich schiebe die Mathematik und Physik zur Seite, denn sie hat eigentlich gar keinen Platz in diesem Roman. Es geht vielmehr um Auswirkungen und Emotionen, und die bringen Lena und Chris (1) ab Seite 84 herrlich zum Ausdruck.

“Ich glaube, ich finde die Vorstellung schön. Es ist, als hätte man eine sehr, sehr gute Freundin, die alles über einen weiß und von der man alles weiß, ohne dass man darüber sprechen muss.”, Seite 84

Lena hat einen romantischen Blick darauf, wie es wäre, eine Art seelenidentischen Zwilling auf dem Planeten Erde zu wissen. An dieser Stelle habe ich (wie so oft) das Buch zur Seite gelegt und nachgedacht, ob ich ihr zustimmen kann.

In gewissem Ausmaß kann ich es tatsächlich. Aber ich würde bei dieser Person, so es sie geben könnte, Grenzen wünschen.

Karriere, Beziehungen, Hobbies, Leidenschaften, Gedanken, Weltanschauung – ist okay. Ich würde die Person gerne kennenlernen.

Aber wenn die Person meinen Namen tragen würde, ihre Vertrauten die Namen meiner Vertrauten tragen würden und wenn sie zuletzt das gleiche Buch gelesen, das gleiche Musikstück geprobt oder den gleichnamigen Roman geschrieben hätte, dann würde ich mich wie Chris fühlen.

“Nein, sagte ich, es ist, als sei man kein ganzer Mensch mehr, als löse man sich auf. Es ist schrecklich.”, Seiten 84 – 85

Dieser und ähnliche Gedanken trieben mich um, während dieses Buch mich völlig vereinnahmte. Ich konnte in der Zeit kein anderes Buch lesen, an nichts Literarisches denken – nur im Meer schwimmen konnte ich, und das habe ich auch getan.

Schwächen des Buchs:

Es war mir nicht möglich, dieses Werk rein nach Stärken und Schwächen zu beurteilen, und ich habe das Gefühl, ich dürfe mir nicht anmaßen, negative Kritik zu diesem Werk zu äußern. Ich stecke noch in der Ehrfurcht-Schockstarre, obwohl ich das Buch vor über zehn Tagen beendet habe.

Mein Fazit zu Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt:

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt hat mich fertig gemacht. Ich liebe dieses Buch, aber ohne Herzflattern. Es ist eine tiefe Liebe, ein krasses Nichtverstehen und sehnsüchtiges Leiden und Erdulden der Auswirkungen des Universums. Ich bin okay, stecke nicht in einer Sinnkrise, aber ich kann mir vorstellen, dass es anderen Lesern und Leserinnen so ergehen mag.

Welche Auswirkungen dieses Setting auf Lena und Chris hat, kannst du in “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” nachlesen. Eine absolute Kaufempfehlung für jeden, der spontan im Meer schwimmen kann oder Meditation beherrscht, denn irgendwie muss man wieder runterkommen.

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Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Peter Stamm

Entwicklungsroman
Softcover, 160 Seiten

erschienen bei S. Fischer

22. Februar 2018

ISBN 978-3-103972597


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