Schicksal oder selber Schuld? – Die Unsterblichen [Rezension]
Eine Wahrsagerin prophezeit vier Geschwistern im New York der 60er Jahre, an welchem Tag sie sterben werden. Angeblich glaubt keiner von ihnen an diesen Unsinn, aber dennoch fließt das Wissen von diesem Tag an in jede ihre Entscheidungen mit ein. Als sie ihrem Datum einer nach dem anderen näher kommen, stellt sich die große Frage: wird die alte Frau mit ihren Behauptungen Recht behalten?
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
- Endlich weitergelernt (ich musste wissen, wie es ausgeht – Prüfung hin oder her!)
- Mir einen Tee aufgesetzt.
- Schlafen gegangen.
Mein Eindruck zu Die Unsterblichen:
Was würdest du tun, wenn du genau wüsstest, an welchem Tag du sterben wirst? Mit dieser Frage spielt „Die Unsterblichen“ von Chloe Benjamin. Dabei erzählt sie einen Familien-Epos, der von den späten Sechzigern bis in die 10er Jahre des neuen Jahrtausends reicht. Verschiedene unangenehme Aspekte der amerikanischen Geschichte werden dabei in den Fokus gerückt, die so eigentlich nie thematisiert werden. Das Schwulenviertel im San Francisco der Siebziger, das Show Buiz des Vegas der Achziger, ein Militärarzt zur Zeit des Irakkriegs und Primatenforschung im Californien am Beginn eines neuen Jahrtausends. Alle Aspekte werden bis aufs unangenehme Skelett runtergebrochen und mit lebhaften Figuren besetzt, die als Sinnbilder gewisser Gedankengänge fungieren.
Stärken des Buchs:
Wenn ich die größte Stärke des Buches nennen soll, muss ich tatsächlich nachdenken. Ich glaube, es ist das Gedankenexperiment an sich, das das Buch so besonders macht. Sprachlich spannend erzählt und historisch sowie kulturell gut recherchiert, werden Figuren auf ein Schachbrett gestellt und entlang von Gedankengängen vorwärts bewegt. Eingeflochten in einen jüdischen Hintergrund, der viel preisgibt über die jüdische Kultur, wachsen die vier Geschwister in New York auf und verstreuen sich dann über ganz Amerika. Jede/r der vier bekommt ein eigenes Buch im Buch und damit auch einen eigenen Sub-Plot, der die Lebensumstände beleuchtet.
Die Frage nach dem Schickal
Trotzdem bleibt das alles zwar interessant und unterhält den wissbegierigen Leser, ist aber nicht die Hauptfrage, die behandelt wird. Der Fokus kehrt immer wieder zu dem Gedankengang zurück, was passieren würde, wenn man sein eigenes Todesdatum kennt. Ob es ein Schicksal gibt, dessen Fäden immer zum selben Ende führen würden oder ob es nicht eher das Wissen wäre, das die eigenen Entscheidungen so beeinflusst, dass sich die Prophezeiung am Ende selbst erfüllt.
Schwächen des Buchs:
Und da haben wir ihn auch schon, den großen Kritikpunkt. Dadurch, dass die Autorin sich so intensiv mit der Frage nach Schicksal und Schuld bzw. Eigenverantwortung und Sich-Selbst-Erfüllender-Prophezeiung beschäftigt, bleiben manchmal Figuren und Handlung auf der Strecke. Bis zum Ende des zweiten Erzählstranges fällt es noch nicht auf, aber ab dann wird die Handlung zugunsten des Gedankenexperimentes… naja, sagen wir unlogisch. Die Charaktere fallen irgendwie aus ihren Rollen und Ende fügt sich wie von Zauberhand plötzlich alles so, wie die Autorin es sich gewünscht hat. Damit untermauert sie zwar ihren Gedankengang, verliert aber ihre Glaubwürdigkeit in Handlung und Charakterorganisation.
Mein Fazit:
Trotzdem fand ich „Die Unsterblichen“ sehr gut geschrieben und spannend aufbereitet. Gerade die historischen Gegebenheiten im ersten Buch (Simon), die sich auf die Schwulenbewegung der 60er Jahre konzentrieren, fand ich sehr interessant, genau wie Klara (zweites Buch) und ihre Liebe zu Zaubertricks. Das Buch ist angenehm zu lesen, regt ein bisschen zum Nachdenken an und sollte auch als solches Buch gelesen werden: als Gedankenexperiment. Da ich mich beim Lesen auf diesen Aspekt konzentriert habe, fällt es mir leicht, nicht zu streng mit der Autorin zu sein, wenn sie die Handlung und Charaktere zugunsten ihrer Theorie ein bisschen überstrapaziert. 5 Sterne hat es nicht verdient, aber unter allen oben genannten Betrachtungen denke ich, dass 4 von 5 Sternen durchaus angemessen sind.
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Die Unsterblichen
Chloe Benjamin
GegenwartsliteraturHardcover, 480 Seiten
erschienen bei btb
29. Oktober 2018
Auch wenn sie besonders oft Fantasy liest, wird prinzipiell jedes Buch gelesen, das unvorsichtig genug war, ihr in die Hände zu gelangen. Nur vor Krimis und Thrillern wahrt Marlen respektvollen Sicherheitsabstand, der sich bei begründetem Spannungsverdacht allerdings sehr schnell verringern kann. Wenn sie nicht gerade liest, haut sie wahrscheinlich gerade eifrig in die Tasten um ihre Roman voranzutreiben und ihre Figuren leiden zu lassen.