Kein Mindfuck, nur Philosophie – Hector und die Entdeckung der Zeit [Rezension]

Kein Mindfuck, nur Philosophie – Hector und die Entdeckung der Zeit [Rezension]

Lasst uns die Zeit entdecken, mit Hector auf seiner dritten Reise! Hector ist kein junger Psychiater mehr, er ist älter geworden. Seine Patienten sind weiterhin unglücklich. Die einen wünschen sich, die Zeit vergehe möglichst schnell, damit sie endlich zum Glück gelangen. Die anderen wünschen sich, die Zeit vergehe langsamer. Die Therapie von Sabine ist ausschlaggebend für die neue Reise. Sie will, dass die Zeit im Urlaub und mit der Familie langsamer vergeht, aber im Alltag hat sie das Gefühl, ihr würde eine Uhr im Bauch stecken. Sie muss Routinen abarbeiten, Pflichten erfüllen, funktionieren. Ein anderer Patient bereut und leidet, will die Zeit zurückdrehen. Andere leben im Kopf in der Zukunft.

Alle fühlen sich ferngesteuert, und Hector beginnt, sich zu fragen, wie die Menschen die Zeit wahrnehmen und wie wir eigentlich mit ihr umgehen sollen. Er macht sich auf eine Reise, diesmal überwiegend in seinem Umfeld in Paris. Es geht ums Altern und Jungfühlen, um die Wahrnehmung und den Umgang mit der Zeit.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Ich bin in Schwarmstedt ausgestiegen: Ich hatte Feierabend von meinem frustrierenden Job
  2. Zu Hause gab es plötzlich eine Überraschung für mich.
  3. Essen! Freunde! Musik!
Hector und die Entdeckung der Zeit, Foto: Kia Kahawa
Hector und die Entdeckung der Zeit, Foto: Kia Kahawa

Mein Eindruck zu Hector und die Entdeckung der Zeit:

Ich hätte nach “Hector und die Geheimnisse der Liebe” nicht gedacht, dass “Hector und die Entdeckung der Zeit* ein so anregender, weiterbringender und -denkender und fantastischer Roman wird. Band 1 der Reihe war super stark, Band 2 hat geschwächelt, und dieser dritte Teil der Hector-Reihe von François Lelord zieht das Niveau noch einmal ganz nach oben. Wer es so weit geschafft hat, ist hoffentlich wie ich dem Autor verfallen und will alles lesen, was Lelord von sich gibt.

Stärken des Buchs:

François Lelord hat einen Charakter ins Buch geschrieben, der ein alter Psychiater ist, der viel mehr Erfahrung hat als Hector und ihm den Weg weist. Er bringt Hector bei, neben seinen Reisen durch die Welt auch mal vor der Haustür zu schauen und zu suchen, und er bringt Philosophie ins Buch. Ich bin mir sicher, dass der alte François die buchige Reinkarnation des Autors ist, und was Lelord mit seinem alten François anstellt, ist schriftstellerisch hochwertig und belletristisch mutig.

Sehr stark finde ich bei “Hector und die Entdeckung der Zeit”, wie das Thema Zeit angegangen wird.

“”Zunächst versuchen sie, die Zeit zu definieren, und das ist nicht gerade leicht, denn man kann die Zeit weder sehen noch berühren. Ebensowenig kann man aus ihr heraustreten. Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich, was die Zei ist, aber will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht mehr. Das ist der heilige Augustinus.”
[…] “Gut, aber es gibt dennoch eine Definition, die ich sehr mag: Die Zeit ist die Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des Davor und des Danach. Sagt Aristoteles.”
“Pardon?” meinte Hector.
Er begann die Philosophie ein bißchen komplizierter zu finden.
“Aber es ist doch ganz einfach. Man muß nur definieren, was “Zahl” bedeutet. Aristoteles unterscheidet nämlich einerseits das “Zählende” – wenn Sie so wollen, die Sekunden, die Ihre Armbanduhr mißt –, andererseits aber auch das, was gemessen wird, das Ihnen im Leben Widerfahrende, und diese Sekunden Ihres Lebens nennt Aristoteles das “Gezählte”.”, Seite 39-40

Das sind so herrliche Gedanken, dass sie mich auch jetzt, vier Jahre, nachdem ich dieses Buch 2014 gelesen habe, berühren und beflügeln. Es geht so viel um unsere Wahrnehmung und den Wert unserer Erinnerungen, dass ich dieses Buch glatt im heutigen, überlaufenen und sehr profitablen Buchmarkt der Persönlichkeitsentwicklung sehen kann. Wieso gibt es noch keinen Speaker, der den Wert der Zeit statt Effizienz, die Heiligkeit unserer Erinnerungen statt gesunder Beziehungen und manipulativen Strategien und das Glück in den Begegnungen statt das Glück des mitunter finanziellen Erfolgs herausstellt? Vielleicht wird das meine Aufgabe, vielleicht bleibt das ein Geheimnis, das nur glücksuchende Romanleser kennen.

Hectors Zeit-Etüden:

In “Hector und die Entdeckung der Zeit” gibt es wirklich viele Lektionen, diesmal geschickt Zeit-Etüden genannt, eine deutliche Stärke im Gegensatz zu “Kleine Blüten der Liebe” aus Band 2 der Reihe, die mir als Leserin Tore geöffnet haben.

Natürlich möchte ich in dieser Rezension auf einige Etüden eingehen, damit du weißt, was dich in diesem herrlichen Roman erwarten wird.

“Zeit-Etüde Nr. 12: Denken Sie über Ihre ganze Vergangenheit nach, und versuchen Sie davon ausgehend Ihre ganze Zukunft vorauszusehen (oder jedenfalls die Zukunft, die für Sie am wahrscheinlichsten ist).”, Seite 80

Diese Übung brachte mich dazu, das Buch zuzuklappen und mehrere Haltestellen lang darüber nachzudenken, wie meine Zukunft basierend auf der Vergangenheit aussehen würde. Das Ergebnis: Es geht nicht. Meine Vergangenheit prägt mich, und zu diesem Zeitpunkt, es war 2014, hatte ich Angst vor Menschen. Wenig Freunde, mochte wegen schlimmer Erlebnisse in der Vergangenheit vor allem Frauen nicht wirklich.

Die Schönheit des Lebens war mir abhandengekommen, war ich doch frisch diagnostiziert, über Monate in Misserfolgen und vergeblicher Hoffnung und Arbeit gebadet. Und heute, 2019, sieht mein Leben völlig anders aus. Ich tue, was ich liebe, obwohl ich zum Zeitpunkt, als ich dieses Buch gelesen habe, meinen großen Traum und meine Wunschkarriere verloren hatte. Eine Etüde wie diese kann uns zeigen, dass wir alles und nichts beeinflussen können, und vor allem, dass sich alles ändern kann. Vor allem das, was wir als unlösbar und gegeben hinnehmen!

“Zeit-Etüde Nr. 25: Hören Sie Musik, und sagen Sie sich dabei, sie sei ein Sinnbild für die Zeit. Welche Melodie hat ihr Leben?”, Seite 164

Früher ein Trigger, heute eine romantische Idee in meinem Kopf. Musik bestimmt viel in unserem Leben, und bis heute wünsche ich mir, dass Hector eines Tages auf eine Reise geht, in der er die Bedeutung von Musik und Gemeinschaft ergründet.

“Zeit-Etüde ohne Nummer: Versuchen Sie zu empfinden, daß die Gegenwart Ewigkeit ist und alles und nichts zu gleichen Zeit.”, Seite 202

Ein Mindfuck, der der Überschrift dieser Buchrezension widerspricht: Es ist ein Mindfuck. Und es ist wahr. Ich glaube schon länger zu wissen, dass es die Zukunft nicht gibt, denn sie ist eine Mischung aus Erwartungshaltungen, Wünschen, Zielen und Befürchtungen. Die Vergangenheit existiert ebenfalls nicht. Sie besteht aus Erinnerungen. Aus den Sekunden, die wir gesammelt haben, nicht aus denen, die auf der Armbanduhr ticken. Der Mix aus Hecotrs Etüden und der Philosophie, die der alte François  transportiert, gefällt mir außerordentlich gut.

 

Hector und die Entdeckung der Zeit ist Band 3 der Reihe "Hectors Abenteuer"
Hector und die Entdeckung der Zeit ist Band 3 der Reihe “Hectors Abenteuer”

Mein Fazit zu Hector und die Entdeckung der Zeit:

Ich glaube, “Hector und die Entdeckung der Zeit* ist mein liebstes Buch aus der Hector-Reihe von François Lelord. In diesem Buch gibt es die Etüden der Zeit, die nicht nur im Roman funktionieren, sondern auch für mich als Leserin wertvolle Erkenntnisse und daraus resultierende Aufgaben enthalten. Die Geschichte ist mitreißend, und der alte François ist ein wertvoller und toller Charakter, der Paris, Hector, die gesamte Geschichte und die Philosophie bereichern. Eine dringende Leseempfehlung für alle, die mit Hectors Reise anfangen wollen und sich schon jetzt auf Band 3 freuen. 

Du willst mehr von Kia lesen? Hier kommst du zu allen Rezensionen unserer Rezensentin.



Hector und die Entdeckung der Zeit

François Lelord

Entwicklungsroman
Softcover, 224 Seiten

erschienen bei Piper

1. Oktober 2008

ISBN 978-3-492252676

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