Auf der Suche nach dem Vatergefühl – Land in Sicht

Auf der Suche nach dem Vatergefühl – Land in Sicht

„Land in Sicht“ ist der Debütroman von Ilona Hartmann, die im Internet bekannt dafür ist, mit minimalem Platz maximal witzig zu sein. Ob sie das auf 160 Seiten durchhält?

Auf der Suche nach dem Vater macht Jana Bühler eine Kreuzfahrt. Auf der Donau. Und ist die mit Abstand jüngste Passagierin. Der gesuchte Vater ist erster Kapitän des Schiffs und hat natürlich keine Ahnung, wer die junge Frau ist, die trotz rentnerbeiger Tarnkleidung noch auffälliger ist als der Bordmusikant in seinem Glitzer-Sakko. Jana will sich erst ein Bild von dem Mann machen, der ihr Vater sein soll, bevor sie sich zu erkennen gibt, so der Plan. Ein Versteckspiel der Annäherung beginnt.

Bei dieser Buchrezension handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Buchensemble und dem Blumenbar-Verlag.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Schlafen gegangen
  2. Aufgestanden
  3. Viel zu lange gebraucht, um mich für ein nächstes Buch zu entscheiden und deswegen zu spät zur Arbeit gekommen

Mein Eindruck zu Land in Sicht:

Ein Buch, das statt eines Klappentexts Lobpreisungen von halb bekannten Stimmen aus der Literaturszene auf die Rückseite gedruckt bekommt, na okay. Sagen wir mal es hat Attitude. Außerdem ist es dünner als gedacht, fast schon eine Novelle, dafür wunderschön gestaltet. Cover, Material, Format, das ganze Buch ist so stylisch wie die Autorin selbst und wirkt dabei ebenso mühelos. Effortless, im positivsten Sinne. Ich hatte also hohe Erwartungen an dieses Debüt, zu dem ich noch kaum Meinungen gelesen habe, abgesehen davon, dass es sich ganz wunderbar für Instagram-Bilder eignet, auf denen im Hintergrund Wasser zu sehen ist.

Zum Teil werden diese Erwartungen erfüllt. Es macht sich etwa tatsächlich sehr gut auf Fotos am Strand, ebenso in der Badewanne. Aber auch sonst hat „Land in Sicht“ trotz einiger Schwächen die einen oder anderen Stärken.

Stärken des Buchs:

Der Humor ist erfrischend wie ein Wiener Sommerspritzer.  Und genauso trocken. Er macht vor nichts Halt, weder vor Kronleuchtern noch den eigenen Neurosen, und hilft durch so manch unkoordinierte Beschreibung.

Die zweite größte Stärke ist die illustre Runde an Charakteren, die wir kennenlernen dürfen. Denn obwohl „Land in Sicht“ zumindest zu einem beträchtlichen Teil autobiographisch sein soll*, ist die gesamte Geschichte voller wunderbarer Romanfiguren. Allen voran Jana Bühler, „wahrscheinlich 24, wohnhaft irgendwo, Adresse vergessen“, die zugleich höflich und widerspenstig, sanftmütig und draufgängerisch ist. Ein bisschen schüchtern. Ein bisschen exzentrisch. Charmant. Man möchte sie zur Freundin haben.

Land in Sicht Buchcover, Foto: S. M. Gruber
Land in Sicht Buchcover, Foto: S. M. Gruber

Milan, der Vater, ist zu gleichen Teilen sympathisch wie ärgerlich, ein typischer weißer Cis-Mann mittleren Alters eben. Mit Migrationshintergrund. Dann gibt es noch einen Bob, Entertainer mit einem Faible für Pailletten, ein paar eigentümliche Rentner-Ehepaare und eine überwutzelte** Journalistin aus Wien. Bei keiner Figur versucht die Autorin, negative Charakterzüge zu verstecken (außer vielleicht bei der eigenen Mutter), es wird aber auch nicht moralisiert. Die Menschen sind eben so, wie sie sind, und die Protagonistin sucht sich ihren Platz in diesem Gefüge.

Das Vatergefühl, nach dem Jana sucht, ist launisch. Man weiß nicht, warum es ihr plötzlich fehlt, obwohl sie sich doch solche Mühe gibt, es nicht zu brauchen. Es entsteht ein innerliches Hin und Her der Unsicherheiten. All diese Nuancen des Sich-Findens arbeitet die Autorin in ein paar wenigen Eindrücken mit viel Feingefühl heraus. Hinzu kommen einige wunderbare Sätze über das Erwachsenwerden.

Auch lässt sich ein literarisches Talent für klare Sprache und erkenntnisreiche Beobachtungen erahnen. Doch der Grat zwischen Klarheit und Substanzlosigkeit ist schmal und nicht immer fällt Ilona Hartmann auf die richtige Seite.

*Ich geb’s zu, das habe ich auf Instagram mal gelesen und geglaubt, es scheint aber zu stimmen. Quelle: Deutschlandfunkkultur.de

**Aussprache: überwuuuhtzelt. Österreichisch für: etwas in die Jahre gekommen, verbraucht.

Schwächen des Buchs:

Die Charakterdarstellung ist zwar ehrlich, wie so oft bei autobiografischen Texten jedoch zu distanziert, wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht. Zu häufig bekommen wir nur die Andeutung eines Gefühls vermittelt. Es ist wirklich ganz eigenartig: Ilona Hartmann beschreibt zwar, wie sich gewisse Situationen anfühlen, aber zu selten, was sie mit der Protagonistin in ihrem Innersten machen. Man bleibt sozusagen immer im Vorhof der Hölle hängen, bekommt zwar ein bisschen was von den Emotionen mit, wird aber auf höflicher Distanz gehalten.

So, wie es sonst Influencer machen, gibt Jana Bühler gerade so viel von sich preis, dass wir glauben, sie zu kennen, gerade so viel Gefühl und Selbstreflexion, dass man es mit Ehrlichkeit verwechseln könnte. Für Influencer ist das absolut legitim – für eine Romanfigur eher weniger. Autobiographische Aspekte hin oder her. Natürlich ist das schwierig, aber wenn’s einfach wäre, könnte es ja jeder!

Überhaupt fehlt es zwischenmenschlich an Substanz: Es gibt verhältnismäßig lange Beschreibungen der Umgebung, die auch ihren Witz haben, doch die Figuren kommen immer zu kurz. Ilona Hartmann könnte aus dem Vollen schöpfen, sich mehr Zeit lassen mit diesen Figuren, die man als Leser*in sofort ins Herz schließt. Mehr Chemistry aufbauen, mehr Geschichten erzählen. Was hat es denn auf sich, mit dem fast stummen Dänen, warum laufen sich Bob und Jana nach ihrem gemeinsamen Auftritt kaum mehr über den Weg, wie reagieren die Rentner auf Janas Nähe zum Kapitän? Noch einmal 100 Seiten und etwas mehr Zeit hätten dem Buch gutgetan, denn die gesamte Geschichte lebt von ihren Figuren. Es wirkt, als wollte hier jemand schnell ein Buch veröffentlichen – ob es am Verlag oder der Autorin lag, nächstes Mal wird diesem literarischen Talent hoffentlich mehr Raum gegeben. Und ein Lektorat, das mit diesem auch umzugehen weiß.

Mein Fazit zu Land in Sicht:

„Land in Sicht“ ist insgesamt ein halbwegs passabler Debütroman, vor allem aber eine leichte Sommerlektüre, die insgesamt Spaß macht. Noch kommt das feinfühlige literarische Talent der Autorin nicht besonders zum Vorschein, doch es lässt sich erahnen. Obwohl eine gewisse Substanz fehlt, so ist es doch ein Genuss, die Protagonistin auf der Suche nach dem Vater zu begleiten. Wenn wir doch nur mehr von ihr spüren würden. Es gibt einen Stern Abzug für die stellenweise Substanzlosigkeit und anscheinend zu wenige Zeit, die in die Überarbeitung des Textes gesteckt wurde. Zwei Sterne gibt es für das herrlich unkonventionelle Setting auf dem Flusskreuzfahrtsschiff und die einfallsreiche Zusammenstellung der Figuren.  Außerdem verdient sich die Autorin mit einigen tiefgreifenden Beobachtungen und gekonnten Formulierungen noch einen dritten Stern. Zu guter Letzt hat auch die liebevolle Gestaltung des Hardcovers einen Stern verdient. Und einen halben gibt es geschenkt als Anfängerbonus.

Mit diesen 3,5 Sternen würde es sich also insgesamt lohnen, „Land in Sicht“ zu lesen, wenn man ein Fan der schönen Sprache ist und einen Nachmittag Zeit hat. Dagegen sprechen die stattlichen 18 Euro, die man für dieses Büchlein hinblättern soll. Ich hoffe dann doch lieber auf einen Folgeroman von Ilona Hartmann, der ihrem Talent besser gerecht wird.

Du willst mehr von S. M. Gruber lesen? Hier gelangst du zu ihren Rezensionen.



Land in Sicht

Ilona Hartmann

Gegenwartsliteratur Humor
Hardcover, 159 Seiten

erschienen bei Blumenbar-Verlag

21. Juli 2020

ISBN 978-3-351050764


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