Starke Frauenfiguren – muss es immer stark sein?
Die „starke Frau“ wird in Romanen erwartet, geliebt, kritisiert, dargestellt oder auch vermisst– kurz: thematisiert. Leser*innen wollen die starke Frauenfigur als Heldin sehen, die mit Mut und Intelligenz ausgestattet ist und sich ihren Herausforderungen stellt. Wir finden: Charaktereigenschaften haben kein Geschlecht und kein Problem ist gelöst, wenn Frauen in von männlichen Charakterzügen dominierte Rollen gedrängt werden, nur, um sie mit Stärke auszustatten. Das Buchensemble möchte sich auf die Fragen rund um das Thema Frauenfiguren stürzen. Fragen nach den Charaktereigenschaften, nach Trends, Klischees und wie diese gebrochen werden können. Heute bekommt ihr ein Update für neue Perspektiven auf die starke Frau in der Literatur.
Welche Charaktereigenschaften uns an starken Frauenfiguren faszinieren
Wir schätzen an starken Frauenfiguren den Mut, den sie aufbringen, wenn sie sich in Abenteuer begeben, sich für etwas einsetzen, und auch mal gegen die vorherrschenden Konventionen handeln:
Magret sagt: „In „Das Gleichgewicht der Welt“ von Rohinton Mistry gibt es eine indische Frau, die sich gegen die Wünsche ihrer Familie stellt und einen Mann heiratet, den sie liebt. Er ist nicht wohlhabend, aber sie sind gemeinsam selbstbewusst und bauen sich ein Leben auf. Als er schließlich schon früh nach der Heirat verunglückt, hält sie trotzdem weiterhin an ihrer Entscheidung fest und heiratet wieder gegen die Wünsche ihrer Familie nicht erneut. Sie bleibt allein und kämpft sich so durch das Leben. In Indien gleicht das einem gesellschaftlichen Aus.“
Kia sagt: „Bewundernswerte Frauenfiguren in Romanen sind für mich Charlie aus ,Infiziert‘ von Elenor Avelle, Sissix aus ,Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten‘ von Becky Chambers und Mia aus ,Die Unwahrscheinlichkeit von Liebe‘ von A. J. Betts. Charlie ist badass cool und sieht ihre Pflichten, zieht alles durch und hält die Gruppe zusammen. Sissix versteht nicht, wieso zwei Personen sich nicht lieben dürfen, da sie so nicht aufgewachsen ist […].Ach, und Mia macht, was sie will, redet, wie ihr der Mund gewachsen ist und ist unfassbar launisch, sodass sie fast schon nervig wird, was sie unberechenbar und ehrlich wirken lässt. […]“
Uns begeistern kluge Frauen, die durch ihre Intelligenz die Gratwanderung zwischen Mutig-Sein und Loslassen-Können beherrschen:
M. D. Grand sagt: „Minerva McGonagall aus Harry Potter ist für mich auf jeden Fall eine starke Frauenfigur. Sie behauptet sich in einer von Männern dominierten Welt, besticht durch Klugheit und Kampfesmut und weiß trotzdem genau, wann es an der Zeit ist, ihre Strenge fallenzulassen und auch einmal ein Auge zuzudrücken.“
Wir wollen authentische Frauenfiguren, die trotz der Umstände an ihren Zielen festhalten:
Wiebke sagt: „Bewundernswert empfinde ich Frauenfiguren, die es trotz eines widrigen Umfeldes ihre eigenen Ziele verfolgen. Wie diese aussehen, kann sehr unterschiedlich sein.“
Es darf auch mal Badass sein, findet S. M. Gruber:
S. M. Gruber sagt: „Otilia aus ‚Das böse Mädchen‘, Mario Vargas Llosa – Ein Mädchen aus ärmlichsten Verhältnissen nutzt ihre Schönheit, um sich mit diversen Ehen ein Vermögen anzuhäufen, das sie am Ende ihrer wahren Liebe vererbt. Ziemlich badass, finde ich.“
Es lässt sich zusammenfassen: Wir sprechen von einer starken Frau, die sich auf ihrer Reise nicht unterkriegen lässt, frei vom klischeebehafteten „Jungfrauen-in-Not-Syndrom“ für ihre Ziele kämpft und ihren Weg mit mutigen Schritten beschreitet.
Vom Mauerblümchen zum Badass: Die Entwicklungen starker Frauenfiguren
Geschichten leben davon, dass ihre Figuren in ihnen etwas bewegen. Unsere Frauenfigurenhandeln in Anbetracht der Herausforderungen, die die Geschichte ihnen stellt – und zwar mit ihren Stärken und Schwächen im Gepäck. Natürlich entwickeln und verändern sie sich und es gibt nichts spannenderes, als sie wachsen zu sehen. Dean und Wiebke sehen das ähnlich:
Dean sagt: „Ginny Weasley aus Harry Potter – Hat eine sehr schöne Charakterentwicklung vom schüchternen Mädchen zu einer starken jungen Frau, die sich verteidigen und andere beschützen kann.“
Wiebke sagt: „[…] die Figuren [sollten] eine erkennbare Entwicklung durchleben, anhand derer sich diese vielgelobte Stärke erkennen lässt. Dazu gehört, dass die Figur an ihren Erlebnissen wächst, dazu lernt, eine Meinung bildet oder vielleicht auch total abstürzt.“
Klischees der Frauenfiguren aufbrechen
Auch, wenn starke Frauenfiguren die Klischees aufzubrechen versuchen, sammeln sie Stereotype in sich. In Romanen sind Frauen zu finden, die als stark beschrieben und denen „typisch männlich“ dargestellte Attribute zugeschrieben werden. Das verfehlt für mich den Sinn einer guten, vielseitigen Story.
Wirklich starke Frauenfiguren sind Frauen mit Charakter, Herz und Mut. Keine Frauen, die Kitsch in jedem Fall ablehnen oder grundsätzlich emotional unberührt bleiben müssen. Das Bild der „starken Frau“ in Romanen kann erzwungen wirken und es sollte keine Option sein, unsere Heldinnen grundsätzlich in von männlichen Charakterzügen dominierte Rollen zu drängen, nur, um sie mit Stärke auszustatten. Das ist kein guter Ansatz, wie ich finde. Denn: Charaktereigenschaften haben kein Geschlecht. Es gibt handwerklich begabte Frauen, die gut in Mathe sind, wie es auch empathische Männer gibt, die wunderbar Haare frisieren können.
Der Zwang, der hinter dem Label des vermeintlich Starken steht, stört mich. Es ist schön, Vielfalt in Romanen hineinzuschreiben und die Buchwelt damit bunter zu machen. Frauen mit typisch als männlich erachteten Charaktereigenschaften zu versehen, löst das Problem nicht.
Natürlich kann man starke Frauenfiguren in Heldengeschichten platzieren, deren Charakter an den eines in der Literatur dargestellten Mannes erinnert. Das ist gut, doch wäre nach dem vierten Roman sicherlich öde. Eine starke Frauenfigur ist stark, mutig, emotional und darf alles mögen, lieben und tun, was ihren Charakter bunter und spannender macht.
M. D. Grand sagt: „Für mich ist eine starke Frau eine, die sich ihre Unabhängigkeit erkämpft oder bewahrt und sich in ihrer Rolle mit starkem Willen behauptet. Dabei muss sie aber nicht immer hoch erhobenen Hauptes umherschreiten und Beleidigungen austeilen oder mit Kopfabschlagen drohen. Wie jeder Mensch darf sie durchaus auch „Schwäche“ zeigen, mal nicht wissen, was zu tun ist oder sich an einer Schulter ausheulen, wenn sie nicht mehr weiter weiß. Sie darf sich auf ihre Freunde verlassen und sich verlieben, mal eine dumme Entscheidung treffen. Hauptsache, sie gibt nicht ihr Hirn ab, kämpft weiter und behauptet sich gegen jene, die sich ihr in den Weg stellen.“
Der Fokus liegt bei der Gleichberechtigung
Bei Gleichberechtigung liegt der Fokus, – nicht nur auf dem Label des Starkseins bei Frauen. Es kommt auf die Geschichte und auf den Charakter der Hauptfigur an. Passt dieses „stark“ zu der Protagonistin? Wie sollen Frauen repräsentiert werden? Ist dieses „stark“ nicht ausgelutscht? S.M. Gruber findet das nicht.
S. M. Gruber sagt: „’Stark‘ kann alles sein. Auch wenn eine Frau viele vermeintliche Schwächen hat, kann sie immer noch stark sein, solange sie alles in ihrer Macht stehende tut, um selbstbestimmt zu handeln. Frauen sollten so vielfältig repräsentiert werden, wie sie sind, solange ich beim Lesen herausfinden kann, wieso sie so ist, wie sie ist.“
Ich finde, Frauen dürfen und sollen sehr gern als starke Heldinnen in Romanen präsentiert werden. Warum auch nicht? Es sollte ein Gleichgewicht bestehen. Dass „starke Heldinnen in der Hauptrolle“ zu einem Trend geworden sind, hat neue Perspektiven eröffnet, ist gut und am Puls der Zeit. Trotzdem finde ich, dass sich Autor*innen nicht zwingend auf diesen Trend stürzen müssen, damit sie ein gutes Buch schreiben.
Kia sagt: „Diese Standard-Starken-Frauen nerven mich, wenn sie dem inzwischen zum Klischee gewordenen Bild der starken Frau entsprechen. Ich bin Antisexistin, was neben meinem Einsatz für Gleichberechtigung bedeutet, dass mir das Geschlecht einer Person völlig egal ist. Eine Frau sollte wie ein Mann, Non-Binary, ggfs. ein geschlechtsneutrales anthropomorphes Wesen oder wie ein Alien repräsentiert werden: So, wie es dem Autor oder der Autorin gerade in den Kram passt, und so, wie es der Geschichte guttut. Authentisch, zum Hineinversetzen, zum Mitfühlen, mit Ecken und Kanten – normal und doch besonders, irgendwie.“
In Sophie Andreskys Erotikromanen zum Beispiel werden Frauen als auch Männer gleichberechtigt und in unterschiedlichen Rollen präsentiert. Das und Andreskys Stil, ihre charaktervollen Figuren sich zugleich mit ihrer Sexualität auseinandersetzen zu lassen, machen ihre Romane sympathisch. Es bricht Stereotype und sorgt für Gleichberechtigung, was sich im Charakter der Protagonist*innen und im selbstbewussten Umgang mit ihrer Sexualität zeigt.
Starke Frauenfiguren als Vorbilder und Idole
Nichtsdestotrotz: Weg von klischeehaften Frauenmagazinen und Trash-TV-Fernsehshows am Samstagabend!
Frauenfiguren in Büchern geben mehr her.
Sie sind unsere Heldinnen, Vorbilder, Idole, Lieblingsfiguren unddie Protagonistinnen unserer Geschichten. Und wir können bestimmen, wie sie leben, kommunizieren und durch ihren Alltag spazieren. Crazy Cat- and Dog Ladys, Handwerksmeisterinnen, Sonntagabend-Schokoeis-Verschlingerinnen, Profi-Ballett-Tänzerinnen, Hochleistungssportlerinnen, Make-Up-Liebhaberinnen, Boxsack-Verabscheuerinnen. Sie können alles sein, wenn wir wollen.
Dean sagt: „Wichtig ist die Individualität der Charaktere. Das Geschlecht sollte hier keine Grenzen ziehen.“
Starke Frauenfiguren erschaffen: Mehr als stark
Eine gut ausgearbeitete Protagonistin ist eine Protagonistin mit Charakter. Und zwar mit einem komplexen Charakter, der sich nicht auf Klassiker stürzt, sondern aufs Leben.
Menschen sind kompliziert und haben negative Eigenschaften, so wie sie auch Romanfiguren brauchen, um authentisch zu sein. Das gilt beim Erschaffen von Protagonisten sowie von Protagonistinnen. Eine starke Frauenfigur muss nicht das Bild der Non-Plus-Ultra-Action-Heldin repräsentieren, um eine starke Frauenfigur in einem Roman darzustellen. Sie darf und sollte Schwächen haben und diese zeigen.
Magret sagt: „Frauen sind nicht nur dann stark, wenn sie stark wie ein Kerl sind, also typisch männliche Eigenschaften haben. Frauen in Führungspositionen werden gerne so abgebildet. Dabei ist wahre Stärke viel subtiler und eine Frau mit rein typisch femininen Eigenschaften kann unheimlich stark sein. Das sind zum Beispiel Feinfühligkeit, Kommunikationsfähigkeit, Leidenschaft, Aufopferung. Und auch solche Frauen können übrigens auch durchaus in der Lage sein, ein Schwert zu halten“
Beim „Starksein“ hört es nicht auf: Über die Stärke hinaus sollte die Protagonistinnen auch vieles anderes sein. Wir wünschen uns humorvolle, herzliche, übermütige, ehrliche Eigenschaften, die den Plot der Story weiterbringen.Ein Leitsatz: Weg von Idealen und typisierten Rollen, hin zu Vielseitigkeit und menschlichem Charakter.
Wiebke sagt: „Stärke ist vielfältig und kann nicht anhand einer Checkliste oder eines Figurenerstellungsplans abgearbeitet werden.“
Wo ihr starke Frauenfiguren findet
Bücher von starken Frauen werden von starken Autorinnen geschrieben: Ursula Poznanski zum Beispiel schreibt in „Vanitas“ über die FigurCarolin Springer. Carolin hat mich mit ihren Stärken und Schwächen beeindruckt und ist eine Heldin, mit der ich gern mal einen Kaffee trinken gehen würde.
Frauenfiguren mit Mut und Charakter laut dem Buchensemble:
- Die indische Frau aus „Das Gleichgewicht der Welt“ von Rohinton Mistry
- Minerva McGonagall aus „Harry Potter“ von J. K. Rowling
- Hermine Granger aus „Harry Potter“ von J.K. Rowling
- Ginny Weasley aus „Harry Potter“ von J.K. Rowling
- Mia aus „Die Unwahrscheinlichkeit von Liebe“ von A. J. Betts.
- Sally aus „Alles über Sally“ von Arno Geiger
- Otilia aus „Das böse Mädchen“ von, Mario Vargas Llosa
- Wendy aus „Peter Pan“ von J. M. Barrie
- Charlie aus „Infiziert“ von Elenor Avelle
- Inés Suaréz aus „Inés meines Herzen“ von Isabel Allende
- Yeong-hye und In-hye aus „Die Vegetarierin“ von Han Kang
- Morgaine aus „‚Die Nebel von Avalon“, Marion Zimmer Bradley
- Sissix aus „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“ von Becky Chambers
- Carolin Springer aus „Vanitas“ von Ursula Poznanski
Welche Frauenfiguren haben dich zuletzt fasziniert? Welche starke Frau sollten wir mit einer Buchrezension ehren? Lass uns wissen, welche starken Frauenfiguren dir in Büchern begegnet sind und verrate uns gerne, welche Frauenfiguren dir beim Schreiben in deine eigenen Bücher gestolpert sind.
Übrigens: Sina Bennhardt schrieb Anfang Mai über Männerfiguren und welche moralische Pflicht Autor*innen beim Schreiben haben.
Curly liest und hört Romane fürs Herz; Bücher, die sich nicht weglegen lassen, und Zeilen, die neue Perspektiven eröffnen. Grundsätzlich: Literatur, die zum Nachdenken verführt. Wenn sie kein Buch in der Hand hat, hat sie die Schreibmaschine (oder: das Notebook) vor sich und schreibt – als Journalistin, Autorin, Kulturanthropologin und im Marketing.
Curly war von 2019 bis 2020 Mitglied im Buchensemble.