Schauermärchen für Erwachsene – Der Ozean am Ende der Straße [Rezension]

Schauermärchen für Erwachsene – Der Ozean am Ende der Straße [Rezension]

Ein namenloser Ich-Erzähler fährt zu einer Beerdigung. Auf dem Weg dorthin biegt er plötzlich ab, in die Gegend, in der er aufgewachsen ist. Wie magisch zieht es ihn zum Elternhaus und noch mehr zum Bauernhof der Hempstocks und dem Teich dahinter. Ein Teich, den Lettie Hempstock immer einen Ozean nannte. Lettie Hempstock, die er beinahe schon vergessen hatte. Er setzt sich auf die Bank beim Teich und nach und nach beginnt er  sich zu erinnern: an seine Kindheit, an Lettie Hempstock, an den Opalschürfer, das Land hinter unserem mit dem orangen Himmel und dem uralten Wesen, das sich Ursula Monkton nannte. An Kätzchen mit Saphiraugen und  grauenhafte Gestalten, an Magie und Monster, die älter sind als die Welt.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Die Kurzgeschichten im Anhang lesen.
  2. Mich fragen, warum ich das getan habe.
  3. Das Buch zurück ins Regal stellen und mir ein neues raussuchen.
Der Ozean am Ende der Straße, Foto: M. D. Grand
Der Ozean am Ende der Straße, Foto: M. D. Grand

Mein Eindruck zu Der Ozean am Ende der Straße:

Der Ozean am Ende der Straße* ist ein klassischer Gaiman: Ein Schauermärchen für Erwachsene mit einem so subtilen Horror, dass man nicht weiß, ob man deswegen mehr oder weniger Angst haben soll. In eine Rahmenhandlung eingebettet, entführt der Autor den Leser gleich in die fürchterliche Kindheit des Ich-Erzählers, die mit einem überfahrenen Babykätzchen beginnt und einem Kindergeburtstag, zu dem keiner kommt. Die düstere Atmosphäre setzt sich fort, hervorragend erzählt und unvorhersehbar gestaltet. Immer wieder beschäftigt sich der Protagonist mit Fragen des Kindseins und Erwachsenseins, auch mit dem Erwachsenwerden. Richtig actionreich wird es dabei nicht, aber das muss es auch nicht, denn es ist und bleibt ja ein Märchen.

Stärken des Buchs:

The Neil Himself, wie er sich auf Twitter nennt, ist ein Meister der Erzählungen. Seine Phantasie kennt keine Grenzen, bewegt sich auf sonderbaren, düsteren Pfaden dahin und ehe man es sich versieht, ist man mit ihm abgetaucht in eine Welt, für die einem fast die Vorstellungskraft fehlt. Dabei lehrt Gaiman den Lesern das Gruseln, aber nicht mit der In-Your-Face-Methode, sondern so unterschwellig und unangenehm, dass es fast noch ein bisschen schlimmer ist, weil es einem tief in die Knochen kriecht und sich dort wie ein Parasit festsetzt. Dunkle Bilder, drückende Atmosphären, die richtig plastisch werden, und Monster, die man fast nicht als solche erkennt, prägen auch diesmal wieder den Text, der nicht nur sprachlich verzaubert. Auch der namenlose Protagonist, Ursula Monkton und vor allem Lettie Hempstock (oder überhaupt alle Hempstocks) sind großartig gezeichnet und werden durch die schönen Illustrationen noch zusätzlich zum Leben erweckt.

Eine Illustration aus Der Ozean am Ende der Straße, Foto: M. D. Grand
Eine Illustration aus Der Ozean am Ende der Straße, Foto: M. D. Grand

Schwächen des Buchs:

Wenn man meine obige Lobeshymne liest, entsteht vermutlich der Eindruck, ich wäre verliebt in dieses Buch. Das stimmt so nicht. Ich bin verliebt in die Ideen und Sprache Neil Gaimans. Das trifft auch auf Der Ozean am Ende der Straße* zu, doch trotzdem bleibt es meiner Meinung nach teilweise ein bisschen hinter anderen Gaimans zurück. Ich kann es nicht einmal benennen, vermutlich liegt es daran, dass ich mit gewünscht hätte, manche Aspekte noch mehr auszubauen. Das Buch hätte meines Erachtens noch gut und gerne 100 Seiten mehr vertragen, dafür hätte er sich die Kurzgeschichten im Anhang sparen können, denn die waren – mit Verlaub – nicht gut. Eher Kategorie „Keinen Unterhaltungs- oder Informationsgewinn“ oder in anderen Worten: „Hätte ich mir sparen können“. Aufgrund des dadurch erlittenen Traumas („Was zum Teufel war das denn?!“) werde ich vermutlich auch in Zukunft davon absehen, Gaimans Kurzgeschichten zu lesen und mich weiterhin an seine längeren Werke halten, die mich bisher fast ausnahmslos mit Haut und Haaren verschlungen haben.

Mein Fazit zu der Ozean am Ende der Straße:

Abgesehen von den Kurzgeschichten war die besprochene Lektüre also wieder einmal ein Highlight für mich, das mir in perfekter Gaiman-Manier eine subtile Gänsehaut verursacht  und zum Nachdenken angeregt hat. Im Vergleich zu anderen Gaimans steht es ein wenig zurück, was allerdings eher Jammern auf (tatsächlich) hohem Niveau ist. Da ich mir mehr Hempstock und mehr Land-mit-orangem-Himmel gewünscht hätte, muss ich glaube ich trotzdem einen Stern abziehen und verbleibe damit mit vier von fünf Sternen! Lest es trotzdem!

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Der Ozean am Ende der Straße

Neil Gaiman

Märchen Fantasy
Softcover, 320 Seiten
erschienen bei Bastei Lübbe
15. April 2016
ISBN 978-3404173853

 

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4 Replies to “Schauermärchen für Erwachsene – Der Ozean am Ende der Straße [Rezension]”

  1. Hallo Marlen,
    der Ozean war trotz langer Lesebio und Fantasy-Erfahrung mein erster Gaiman und ich konnte prompt nicht soviel damit anfangen, auch wenn man die einzelnen Bilder bewundern muss. Es kam mir fast vor wie ein „literarischer“, oder „poetischer“ Comic. Scharf konturiert gezeichnet, wunderschön anzuschauen, man verweilt lange bei den Sprechblasen, jedes Bild ist ein pointierter Gedanke, das Heft ein Sammelsurium von kleinen Ereignissen. Man amüsiert sich, versteckt sich damit im Bett vor den Erwachsenen, liest bis tief in die Nacht , legt es weg und vergisst …
    Da geht es mir wie dir und dem Mann im Buch.

    Viele Grüße von David
    PS: Ein paar Gründe, warum das Buch nicht die Leseseele zum klingen bringt, habe ich zu ergründen versucht – aktuell auf meinem Blog.

    1. Hi David,

      freut mich natürlich sehr, dass ich nicht die Einzige bin. Die anderen Gaimans liebe ich sehr – hast du inzwischen z.B. “Neverwhere” probiert? Das mochte ich glaube ich am liebsten …

      Liebe Grüße
      Marlen

      1. Hi Marlen, nachdem ich American Gods noch gelesen habe, ist meine Gaiman-Lesephase fürchte ich beendet. Was ein Opulenz an nordischen Göttergestalten die völlig bedeutungslos für die amerikanische Geschichte sind … nee. Aber wenn ich mal wieder Lust kriege, schaue ich mir Neverwhere an. Danke für den Tipp.
        Irgendwie hab ich deine Antwort gar nicht mitgekriegt … Jetzt nur ganz zufällig, weil ich bei euch “Blog des Monats” bin 😉
        Viele Grüße von David

        1. Ja, von den Nordischen und American Gods habe ich mich erfolgreich ferngehalten, nachdem ich die erste Staffel der Serie zu “American Gods” gesehen habe. Ich mag die “märchenhafteren” Erzählungen einfach lieber, und das kann er glaube ich auch einfach besser. Anansi Boys habe ich mal als Hörbuch angefangen, aber das konnte mich auch nicht überzeugen.
          Liebe Grüße!
          Marlen

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