Tom, Rüdiger und das Leben – Mensch, Rüdiger
In Sven Strickers „Mensch, Rüdiger“ geht es um zwei Männer, die unterschiedliche Leben führen und auf verschiedenen Wegen zum selben Zeitpunkt auf dieselbe Brücke steigen, um herunterzuspringen und sich das Leben zu nehmen. Die beiden schreiben eine Liste mit Dingen, die das Leben lebenswert machen und wollen sich fünf Tage Aufschub geben, um diese Liste abzuarbeiten. Wenn sie sich dann noch immer umbringen wollen, würden sie es tun. Natürlich kommt alles anders, als man zuerst gedacht hat.
Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:
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Über diese Rezension nachgedacht
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Das Erscheinungsjahr des Buches recherchiert
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Notizen für diese Rezension gemacht
Mein Eindruck zu „Mensch, Rüdiger“:
Insgesamt ist „Mensch, Rüdiger“ von Sven Stricker ein unterhaltsamer Roman. Er hat Höhen und Tiefen, und auch beim Lesen hatte ich mühsame und spaßige Zeiten.
Gesucht habe ich übrigens etwas Lustiges, als ich auf „Mensch, Rüdiger“ gestoßen bin. Wer das sucht, ist mit diesem Buch nicht so ganz richtig bedient. Es gibt natürlich witzige, absurde und komische Stellen, aber ich würde dieses Buch nicht dem Humor-Genre, sondern einfach als „normalen“ Entwicklungsroman einstufen.
Stärken des Buchs:
Nach dem ersten Drittel des Buches – auf das ich im Abschnitt Schwächen eingehen werde – ist „Mensch, Rüdiger“ ein wirkich starker Roman. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, wenn der eigentliche Plot auch erst bei der Hälfte beginnt, und die Hauptpersonen wachsen einem ans Herz.
Der Autor versteht es, Klischees mit dem Sympathischen und dem Unerwarteten zu kreuzen. So ist Frau Bormann eine typische einsame Frau jenseits der 80, die zu viel redet, Aufmerksamkeit sucht, niemandem zur Last fallen will und irgendwo doch die Queen ihres Lebens ist. Dann gibt es da Tom, den am Hungertuch nagenden Autor, der nach einem Bestseller und einem Skandal einfach nicht mehr schreiben kann und in einem Supermarkt arbeiten muss, wo er unglücklich und auch eher untalentiert ist. Rüdiger ist ein Lehrer, dem es an Autorität fehlt. Er hat Angst vor seinen Schülerinnen und Schülern, er macht sich etwas aus seiner eher geringen Körpergröße, ihm fehlt jeder Zugang zu seinen eigenen beiden Kindern und seine Frau hat ihn wohl noch nie geliebt. Und dann gibt es da noch Heiner. Wohnwagen, Containern gehen, Cannabis konsumieren.
Insgesamt eine interessante Crew, die sich auf das kleine Abenteuer rund um den Haupt-Plot begibt und dabei zusammenwächst. Toll fand ich, dass hier die Beziehungen alle realistisch gestaltet waren. Niemand wurde sofort Freunde, nur weil man eine Gemeinsamkeit hatte. Die Leute gingen alle ihrer Wege, sie waren sogar erst ablehnend zueinander eingestellt, bis sich dann alles langsam aber sicher entwickelt hat.
Stimmiges Ende
Richtig gut gefallen hat mir, dass das Ende total stimmig ist. Alles kommt zusammen, alles ergibt einen Sinn. Nur die Geschichte um Tom und Gesa hätte ich gerne weitergelesen oder hier endlich ein Ausbrechen aus der eigenen Komfortzone der Protagonisten gewünscht – doch da waren schon zu wenig Seiten im Buch übrig und es hatte nicht sein sollen. Insgesamt ist „Mensch, Rüdiger“ um einen realistischen Plot bemüht, und dass mit Tom und Gesa nichts weiter passiert, nun, das ist tatsächlich einfach nur realistisch.
Schwächen des Buchs:
Gerade das erste Drittel ist eher ermüdend, als Mensch mit Depressions-Karriere fühlte ich mich an einigen Stellen in die „schlechte, alte Zeit“ zurückversetzt und würde glatt sagen, jemand, der nicht austherapiert ist, kommt mit dem Anfang des Buches vermutlich eher schlecht zurecht. Man könnte fast meinen, der erste Teil des Buches sei ein Konvolut aus Triggern, und vor allem, wer mit oder nach einer psychischen Erkrankung nach Triggern rund um Depressionen und ein wahrlich „graues“ Leben sucht, ist hier bestens bedient. Kann eine Schwäche sein – kann auch eine Stärke sein. Ich bin zumindest gewissermaßen stolz auf mich, dass ich den ersten Teil durchgehalten habe – und wurde reich belohnt.
Was ich auch etwas komisch fand, war die Beziehung zwischen Rüdiger und seiner Familie. Ich finde es komisch, 2022 ein Buch zu lesen (es wurde 2017 geschrieben, aber trotzdem finde ich es komisch), in dem Mann und Frau mit zwei Kindern zusammenwohnen, und kaum betrügt die Frau den Mann, muss der Mann von heute auf morgen ausziehen und die beiden Kinder haben weder Emotionen, Mitspracherecht noch Kontakt zum Vater. Dann wird über ein Besuchsrecht alle zwei Wochenenden gesprochen, und abgesehen von einem kurzen, etwa halbstündigen Treffen zwischen Vater und Tochter nach der Schule sind die Kinder auch gar kein Thema mehr.
Es ist, als wäre Rüdiger kein Vater, als würde die Familie nach vier bis fünf Tagen nach der Trennung einfach vergessen sein – und das Ganze ohne Kommentar von irgendwem. Niemanden scheint es zu wundern. Irgendwie merkwürdig und aus der Zeit gefallen. Allgemein hatte ich an einigen Stellen das Gefühl, dass der Autor sich zu sehr auf seine Story Line konzentriert hat. So wurden die ein oder anderen kleinen Handlungsstränge eröffnet und nie zu Ende gebracht. In einer Slice-of-Life-Geschichte vollkommen in Ordnung, in diesem sonst so hermetischen Buch etwas komisch.
Mein Fazit zu „Mensch, Rüdiger“:
Obwohl irgendwas „schief“ ist an diesem Buch und an Rüdiger als Figur, so habe ich vor allem ihn sehr lieb gewonnen. An dieser einen Stelle im letzten Teil des Buches, wo es Rüdiger sehr gut geht, habe ich breit gegrinst. An der Stelle direkt danach, als sich abzeichnete, dass das Gute doch gar nicht gut, sondern Betrug war, sind mir die Gesichtszüge entgleist. Und als ich mir dann nach der Auflösung dieser einen Situation ausgemalt habe, wie es weiter geht, war ich zufrieden und beruhigt. Zwar meine ich damit eine bestimmte Situation, die ich hier nicht spoilern will, aber irgendwie treffen diese Worte auch auf das gesamte Buch zu.
Fazit: Kein Lesegenuss der Extra-Klasse oder wie man das sagt, aber ein Lesegenuss. Nicht herausragend, aber gut. Rüdiger halt.
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Mensch, Rüdiger
Sven Stricker
Entwicklungsromanerschienen bei Rohwolt
18. August 2017
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Kia liest. Nicht nur Sachbücher zur persönlichen Entwicklung und Schreibratgeber, sondern auch Entwicklungsromane, nerdige Science Fiction und alles, was zwischen Utopie und Dystopie ein bisschen Drama angereichert hat. Beim Buchensemble gibt sie hin und wieder Einblicke in ihre Reiseberichte, die sie beim Durchqueren spannender Welten anfertigt.