Ja. – Du darfst nicht alles glauben, was du denkst

Ja. – Du darfst nicht alles glauben, was du denkst

Unter dem Namen Kurt Krömer schreibt Alex Bojcan über seine Depression. Ehrlich, offen, ohne Tabus und absolut authentisch. Ich bin selbst depressionsfrei und gelte inzwischen schon seit mehreren Jahren – bis auf ein Burn-out, das nicht allzu lange her ist – als austherapiert. Die Depression ist für mich wie eine chronische Krankheit, die in leichten bis mäßigen Schüben und nur sehr selten über mich hereinbricht und gegen die ich mit meinen Depressionserfahrungen und Skills anarbeiten kann. Die Erfahrungen mit den schlimmen Depressionen – also denen, die einen lähmen, das Leben unmöglich machen und zum Teil lebensgefährlich werden können – die fühlen sich für mich weit weg an. Kurt Krömer verspricht nackt auf dem Cover, ungeblümt seine Geschichte zu erzählen. Und das tut er auch. Es geht nicht nur um Depressionen, sondern auch um Angststörungen und Sucht: Als ehemaliger Alkoholiker macht der Autor auch hierum kein Tabu.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Geschlafen
  2. wieder aufgestanden
  3. Kaffee (koffeinfrei) getrunken

Mein Eindruck zu “Du darfst nicht alles glauben, was du denkst”:

Ohje, ist es lang her für mich, als ich nicht mehr in der Lage war, einen Brief zum 70 Meter entfernten Briefkasten zu bringen. Alexander Bojcan hat es ähnlich erlebt: Er hat vergessen, wie man einkaufen geht. War total überfordert. Konnte das Abendessen für die Kinder nicht mehr hinkriegen und ging teilweise wieder ins Bett, wenn die Kinder aus dem Haus waren. Er steckte in einer richtig fiesen Depression.

Er schreibt, er sei alleinerziehender Vater von drei Kindern und habe ein weiteres, das er nicht allein erzieht. Da ist Überforderung zwar nicht vorprogrammiert, aber sicherlich ein Risiko. Alex Bojcan lässt hinter die Fassade von Kurt Krömer blicken und schreibt völlig ungeblümt in diesem herrlich-schrecklichen Buch, wer hinter der Kunstfigur steckt und wie es sich auswirkt, einen gewissen Berühmtheitsstatus zu haben und dann plötzlich in einer Klinik mit anderen depressiven Menschen zu hocken. Klar, der Name Kurt Krömer hilft bei der Vermarktung des Buches, und das ist bei einem Thema wie Depressionen doppelt hilfreich – aber im Grunde haben wir es mit “Du darfst nicht alles glauben, was du denkst” mit einem waschechten Alex-Bojcan-Buch zu tun. Kein Kurt-Krömer-Humor, kein Rumreiten auf etwas, das man erwartet, wenn man Kurt Krömer kennt – 100 % Ehrlichkeit und Menschlichkeit.

Stärken des Buchs:

Ich finde es wahnsinnig mutig, dass Alex Bojcan hier überhaupt kein Tabu um seine Gefühle macht. Das fällt selbst mir als Austherapierter noch schwer. Er sagt zum Beispiel, dass er gerne weint. Inzwischen, natürlich. Früher war das ein Zeichen von Schwäche, blabla, aber heute kann er seine Gefühle durchleben und staut sie nicht auf und betäubt sie nicht. A propos Betäubung: Er schreibt auch über seinen Umgang mit Alkohol. Das finde ich super wichtig, zumal ich persönlich aus einem Umfeld komme, in dem das Thema ein Tabu ist. Mehr noch als Sex oder Geld. Das wird sicherlich der einen oder anderen Leserin weiterhelfen, den eigenen Konsum zu hinterfragen und sich zu trauen, auch selbst über das Thema zu sprechen.

Klinikalltag für Depressive

Was ich besonders genial finde, ist, dass der Autor die Katastrophisierung total auf den Punkt gebracht hat. Den Begriff dazu habe ich noch nie gehört. Aber dieses Im-Kreis-Denken und dem Was-wäre-wenn zum Opfer fallen und Sich-alle-worst-cases-raussuchen, das zur Katastrophisierung gehört, kenne ich selbst nur zu gut.

Zudem gibt der Autor Einblicke in den Klinikalltag: Super mega wichtig!

Ganz kurz ein paar Infos von mir, die so im Buch nicht vorkamen: Wer noch nie in einer psychiatrischen Klinik war und seine Bildung aus dem Internet hat, hat verschiedenste Szenarien im Kopf, wie das abläuft. Dass man da eingesperrt wird und nicht rausdarf. Dass man gezwungen wird, vor Fremden über die eigenen Gefühle zu sprechen. Dass den ganzen Tag geweint wird und das Essen mies schmeckt. Zugegeben: Es klingt in “Du darfst nicht alles glauben, was du denkst” sehr stark nach einer Tagesklinik, die Alex Bojcan/Kurt Krömer besucht hat, doch als Vater von vier Kindern, die morgens zur Schule müssen und abends etwas zu Essen benötigen, ist das wohl die sinnvollste Lösung. Und auch das ist super wichtig: Wenn jemand schwere Depressionen hat, muss man nicht in “die geschlossene Klinik”. Die gibt es nämlich gar nicht. Es gibt nur eine geschützte Klinik. Schutz von außen, Schutz vor zu vielen Reizen, Triggern, der Welt. Wer wirklich schwere Depressionen hat, braucht diesen Schutz (ebenso wie Menschen mit anderen schweren psychischen Erkrankungen, die sie voll und ganz einnehmen). Dann gibt es noch die offene, also nicht geschützte Klinik. Auch mit Übernachtung, aber mehr Freiheiten.

Kurt Krömer in der Tagesklinik

Und dann gibt es die Tagesklinik. Zurück zum Autor, zurück zum Buch.

Dann ist Depression dein Job, du gehst morgens hin und abends nach Hause. Und wenn du anfängst zu katastrophisieren, weil du wie bei einem Bürojob Angst hast zu spät zu kommen und wegen drei Minuten Verspätung abgemahnt, rausgeschmissen oder von allen anderen böse angeschaut zu werden, dann kriegst du von deiner Therapeutin die Aufgabe, bewusst eine andere Strecke zu fahren, die du nicht kennst und bei der du mit höherer Wahrscheinlichkeit noch später kommst. Dann kommst du fast eine Stunde zu spät und du fühlst dich großartig – So, nur deutlich besser und nachvollziehbarer, ging es nämlich Alexander Bojcan. Im Klinikalltag geht es um dich und deine persönliche Situation. Und die Leute, die da mit dir sind, sind keine Fremden. Es sind Leute, die dieselben Probleme haben. Die vor dem Supermarktregal gestanden haben und vergessen haben, wie man einkauft, oder die eine Panikattacke bei dem Gedanken kriegen, einen Brief zum Briefkasten bringen zu müssen.

All das ist so unfassbar nah, nachvollziehbar und ehrlich, dass ich versucht bin, das Buch noch einmal zu lesen – oder das von Kurt Krömer höchstpersönlich eingesprochene Hörbuch zu hören, obwohl ich den Inhalt schon kenne.

Nähe und Distanz

Besonders herausragend finde ich, dass trotz der unverblümten, “nackten” und radikalen Ehrlichkeit des Autors weiterhin Grenzen bestehen. Er grenzt sich von der Kunstfigur Kurt Krömer ab und beschreibt sogar, wie es für ihn ist, Angst davor zu haben, erkannt zu werden oder ähnliches. Zum anderen beschreibt er in sehr groben Zügen seine Beziehungen, Familie und einen Urlaub, den er mit einem Kindermädchen und seinen Kindern gemacht hat. Hier schreibt er nur, was nötig ist, um ihn zu verstehen. Es gibt keinerlei private Informationen der Kinder, auch nicht solche, die Freunde der Kinder oder andere familiennahe Menschen beim Lesen des Buches auf sie zurückführen könnten. Auch über Ex-Beziehungen spricht er respektvoll, mit Anstand und auf sich selbst fokussiert. Sehr reflektiert, sehr anständig – so muss das sein.

Echtheit

Weil “Authentizität” ein Buzzword ist, das wohl jedem und jeder, der/die mit Marketing zu tun hat, auf die Nerven geht, möchte ich diesen Abschnitt der Stärken von “Du darfst nicht alles glauben, was du denkst” Echtheit nennen.

Denn der Autor schreibt einfach seine eigene Lebensrealität runter. Er schreibt nicht, wie Depressionen allgemein sind, wie Leser x sich mit Depressionen verhalten soll oder gibt sonst irgendwelchde Ratschläge. Er schreibt über die Ängste, die man als Mensch mit Depressionen zusätzlich bekommt, wenn man nach einem Therapieplatz sucht und mindestens 6 Monate, häufig auch bis zu zwei Jahre, auf einen neuen Termin warten muss. Was, wenn ich den Therapeuten für eine Arschnase halte und wir uns überhaupt nicht verstehen? Muss ich mich ihm dann anvertrauen, oder ein halbes Jahr weiter auf mich allein gestellt leiden? Eine Frage, die sich niemand stellen müsste, die aber real ist.

Auch versucht der Autor nicht, sich zu verstecken. Er zeigt sich selbst auf eine Weise, die keinerlei Urteile zulässt. Mehrere Kinder von mehreren Frauen? Ist eben so. Finanziell läuft es gut bei ihm? Freut mich. “Allein in den Urlaub fahren” heißt, ein Kindermädchen (Oder eher: Eine Kinderfrau) mit in den Urlaub zu nehmen und die Kinder vor Ort auch mal “abzugeben”? Good for you!

Der Autor nimmt sich selbst an, und so kann ich nicht anders, als ihn auch anzunehmen.

Schwächen des Buchs:

“Du darfst nicht alles glauben, was du denkst” ist ein einzigartiges biografisches Werk, das einen wertvollen Beitrag zur Literaturlandschaft beiträgt. Aufgrund des Charakters und der Thematik des Buches habe ich das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, Schwächen anzumerken. Denn was würde das hier auch bringen? Es gibt einfach keinen einzigen Grund, dieses Buch nicht zu lesen. Punkt.

Mein Fazit zu “Du darfst nicht alles glauben, was du denkst”:

Es wird niemals “klick” machen. Der “Klick” ist ein Mythos. Die Verbesserung kommt schleichend. Und nach einem Klinikaufenthalt kommst du nicht geheilt nach Hause. Damit musst du klarkommen, und ein Buch wie dieses ist eine hervorragende Hilfe und Begleitung dabei. Ich bin dankbar für die sehr interessanten Einblicke und das zum Glück eingetretene Happy End. Ich finde, wir sollten alle viel mehr weinen.

Auch, wenn ich Kurt Krömer kaum kenne, bin ich sehr froh, dass ich durch den Verkaufspush durch seine Bekanntheit auf dieses Buch aufmerksam gemacht wurde und Alex Bojcan und seine Depressionen kennenlernen durfte. Ein großartiges Werk, das ich gerne länger als in nur zwei Tagen weggelesen hätte – aber so ist es nunmal, und ich bereue nichts.

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Du darfst nicht alles glauben, was du denkst

Kurt Krömer

Biografisch
Hardcover, 192 Seiten

erschienen bei Kiepenhauer & Witsch

10. März 2022

ISBN 978-3-462002546

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